Manchmal gibt es Alben, vor denen selbst ein Kritiker große Angst hat!
Denn wenn dessen Vorgänger bereits so riesige Begeisterung bei ihm auslöste, dass ihm fast die Worte fehlten – die am Ende urplötzlich bei all den Höreindrücken doch massenhaft aus ihm heraussprudelten – dann kann der Nachfolger im Grunde nur schlechter werden. Besser geht‘s ja kaum noch oder nicht mehr.
Doch welch Glück!
Die Angst war völlig unberechtigt!
„Say So“ von BENT KNEE <a href="http://musikreviews.de/reviews/2015/Bent-Knee/Shiny-Eyed-Babies/" rel="nofollow">hält tatsächlich dem Vergleich mit seinem Vorgänger „Shiny Eyed Babies“ souverän stand</a>.
Es sind höchstens ein paar Äußerlichkeiten, die enttäuschen und nicht das Niveau von „Shiny Eyed Babies“ erreichen. Schade, dass die Verpackung und Gestaltung von „Say So“ nicht ähnlich einfallsreich ausgefallen sind und man sich auf ein dreifach aufschlagbares Digipak beschränkte, in dem trotzdem wieder alle Texte vorhanden sind, die genau das gleiche hochgradige und extrem tiefgründige Niveau wie auf dem 2014er-Album haben.
Und im Grunde brauchte ich mich nur der Meinung des Kritikers der Power-Metal.de-Seite anschließen, der von einer Neu-Definition progressiver Rockmusik spricht und zu dem Schluss kommt: „Es gibt für mich keine bessere Musik.“ Na ja, ich würde wohl statt des Punktes drei Ausrufezeichen setzen, also:
„Auch für mich gilt nach dem Hören dieses Albums – es gibt keine bessere (progressive), höchstens andere, Musik<b>!!!</b>“
Die Stärke von BENT KNEE liegt diesmal eindeutig darin, dass sie sich trotz neuem Label absolut treu bleiben und epische Musikwerke schaffen, die sich ruhig anschleichen und einen umschmeicheln, um dann – wenn man sich im vermeintlichen Schönklang wohlig eingerichtet hat – regelrecht explodieren.
Eigentlich ist das eine zwingend logische Konsequenz, wenn man sich auf die Texte konzentriert. Kein Friede-Freude-Eierkuchen oder Alles-Scheiße-Frust erwartet einen, sondern die nachdenkliche Auseinandersetzung mit all dem, was an alltäglichen Gefahren um uns herum lauert. Zum Beispiel die Entfremdung der Kinder- und der Erwachsenenwelt – in der die Erwachsenen sich am Ende durchsetzen, das Kind(lich)sein aber auf der Strecke bleibt.
So wird in der Welt der Erwachsenen aus Spiel kriegerischer Ernst, aus Neugier auf die Natur das brutale Ausbeuten ihrer Ressourcen im Sinne der Ökonomie und auf Kosten des ökologischen Kollaps‘ oder aus Toleranz und Naivität purer Terror und Besessenheit.
Jeder Song erzählt im Grunde ein kleine (oftmals brutale oder traurige) Geschichte und die Musik dazu setzt deren Stimmung eins zu eins um, deren Atmosphäre man schon bei einem Blick auf das Cover spürt.
Wo geht sie hin, unsere kindliche Reise?
Ins Licht?
Oder in die Finsternis?
Oder schwanken wir ständig dazwischen hin und her, wie die Musik von BENT KNEE?
Das Bild des schwarzen und des weißen Ballons auf „Shiny Eyed Babies“ kommt einem wieder in den Sinn!
Aber auch die Videos zu „Say So“ transportieren diese Stimmungen unglaublich anschaulich.
<a href="https://www.youtube.com/watch?v=9s7XwPw4Ie4" rel="nofollow">„Back Tar Water“</a> lädt uns am Anfang des Albums mit schönen Melodien ein, die am Ende in tiefer progressiver Finsternis über die Zerstörung der Natur versinken, während das folgende <a href="https://www.youtube.com/watch?v=sqx3xfVQXSo" rel="nofollow">„Leak Water“</a> sich gleich den Schrecken des Kindseins zuwendet, wenn Kind zu viel erwachsene Zwänge durchleben muss. Das Mädchen des „Leak Water“-Videos müsste glattweg Aurora heißen, denn nachdem ich dieses Video gesehen und gehört hatte, entdeckte ich sofort unglaubliche Parallelen zu einem Kurzfilm, den ich bei der DRESDNER OSTRALE gesehen hatte und der <a href="https://vimeo.com/24895992" rel="nofollow">„Aurora Falls“</a> hieß und sich mit sehr ähnlichen Mitteln genau mit dem gleichen Thema auseinandersetzte. Der Song „Leak Water“ entwickelt zum Ende hin sogar ein progressives SPOCK‘S BEARD-Thema, das sich sehr gut auf deren ersten drei Alben machen würde.
<a href="https://www.youtube.com/watch?v=g3G7M2dHivg" rel="nofollow">„Hands Up“</a> hätte wiederum das Zeug zu einem veritablen Radio-Hit samt hymnischer Erhabenheit. Damit dies aber nicht passiert, zerlegen BENT KNEE das Stück nach und nach in zappaeske Einzelteile und die gute Courtney singt in allen Facetten zwischen TORI AMOS und LADY GAGA. Unglaublich!
„Nakami“ beginnt als Piano-Ballade, bekommt dann japanische Musik-Strukturen verpasst und explodiert in vokalen Verrücktheiten, die das frei-wild-jazzende „Commercial“ einleiten. Und über den stimmlichen Wahnsinn einer COURTNEY SWAIN und ihrer Background-Bandsänger braucht man spätestens nach „Shiny Eyed Babies“ keine Worte mehr zu verlieren.
Mit dem dunklen, bombastischen, von Streichern getragenen <a href="https://vimeo.com/121946456" rel="nofollow">„Good Girl“</a>, das sich plötzlich in Spieldosen-Klänge verabschiedet und mit einem hymnischen Refrain zum letzten Mal den BENT KNEE-Himmel erobert, in dem sich auch Saxofone, Trompeten, Klarinetten, Posaunen, Flöten und eine Shakuhachi (Japanische Bambuslangflöte aus dem 8. Jahrhundert, das später als wichtiges Meditationsinstrument für zenbuddhistische Mönche galt!) einschleichen, entlässt uns das Album aus seinen Fängen, welche sich am Ende eben doch für die dunkle Seite entscheiden.
FAZIT: „Say So“ nimmt einen 52 Minuten lang gefangen, verblüfft durch seine wilde, progressive, leidenschaftlich rockende und klassisch erhabene Mixtur, die sich trotz der schier unüberschaubaren Vielfalt als ein in sich geschlossenes Musik-Universum erweist, wie es im Grunde nur eine Band hinbekommt: BENT KNEE.
Punkte: 14/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 13.04.2017
Jessica Kion
Courtney Swain, Ben Levin, Chris Baum, Jessica Kion
Ben Levin
Courtney Swain, Vince Welch
Gavin Wallace-Ailsworth
Chris Baum & Nathan Cohen (Violine), Andy Bergman (Saxofon und Klarinette), Ben Swartz & Keith Dickerhofe (Cello), Bryan Murphy (Trompete), Geni Skendo (Flöte und Shakuhachi), Geoff Nielsen (Posaune), Sam Morrison (Saxofon), Rebecca Hallowell (Bratsche)
Cuneiform Records
51:44
20.05.2016