Dass Bruce Dickinson rund anderthalb Jahrzehnte lang einen kreativen Lauf hatte, war einerseits seinem vorübergehenden Ausscheiden bei IRON MAIDEN geschuldet, lässt sich aber vielleicht auch dadurch erklären, dass sich mit den ausklingenden 1980ern eine gewisse Aufbruchsstimmung innerhalb der weltweiten Musikszene verbreitete, die zu einem Mehr an stilistischer Offenheit und gewagten Schachzügen führten, wobei das eigene Königspaar am Ende nicht unbedingt in allen Fällen auf dem Brett stehenblieb. Auch der vermutlich ultimative Heavy-Metal-Sänger sah sich zeitweilig herber Kritik ausgesetzt, der er aber schließlich trotzte, um im wahrsten Sinn des Wortes zuletzt und somit auch am besten zu lachen. Diese neuerliche Wiederveröffentlichung seines gesamten solistischen Schaffens - es ist der erste konsequente Re-Release auf Vinyl - legt einmal mehr aufs Deutlichste Zeugnis davon ab, um wie viele Rock- bis Metal-Klassiker Bruce die Welt bereichert hat … auch und gerade abseits seiner Hauptband.
Alle Alben kommen als schwarze Vinyle mit dem Idealgewicht von 180g pro LP, wobei die beiden letzten bis zu einem hoffentlich nur auf einen unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft verschobenen Nachfolger nicht nur generell Premiere als "Kunststoffgold" feiern, sondern gleich als Doppeldecker vom Metal-Himmel fallen, denn dies soll dank großzügigerer Nutzung der Laufzeit-Kapazität zweier Scheiben einen ausgewogeneren Klang begünstigen … und tut das auch wirklich. In Anbetracht des bekanntermaßen äußerst Bass-lastigen Sounds von “The Chemical Wedding” und “Tyranny Of Souls” war dies eine kluge Entscheidung. Die klanglich suboptimale Picture-LP des "Geburtsunfalls", der vielmehr eine Wiedergeburt in Stahlrüstung gewesen ist (dazu gleich mehr), wird somit vergessen gemacht.
Mit seinem Solodebüt “Tattooed Millionaire” (Frühling 1990) sorgte Dickinson im Vorfeld seiner Distanzierung von der Metal-Garde vor allem deshalb für Aufsehen, weil er sich eher augenzwinkerndem Hardrock mit Glam-Einschlag widmete, wovon nicht nur das schon seinerzeit zigmal gecoverte 'All The Young Dudes' (u.a. David Bowie) zeugte. Der Sänger und seine Hintermannschaft, zu der auch die relative Neujungfrau Jannick Gers zählte, geben sich textlich albernem Humor hin, der gleichwohl nie die musikalische Substanz überschattet. Vielmehr ergänzt die beschwingte Musik, die hörbar von Zwängen losgelöst entstanden sein muss, das frotzelnde Moment der häufig durch die Blume sprechend bitterbösen Lyrics auf hervorragende Weise.
So richtet sich das Titelstück gegen stinkreiche Berufsrebellen nicht allein in der Musikbranche, nachdem sich Bruce im eröffnenden 'Son Of A Gun' noch zu einem Outlaw auf staubigen Wegen geriert hat. Der Eindruck, den die Scheibe hinterlässt, ist jener eines Potpourris ohne Kalkül zusammengestellter Ideen, sei es in Form des autobiografischen 'Born In ’58' oder des besonders energetischen 'Dive! Dive! Dive!', des gespreizten 'Lickin’The Gun' oder schließlich des sonnigen Rauswerfers 'No Lies'. Die Rhythmusgruppe - Bassist Andy Carr (später u.a. SHAKESPEARE SISTERS) und Drummer Fabio Del Rio (JAGGED EDGE) - groovt sexy vor sich hin, was klasse zur generellen Ausrichtung passt. “Tattooed Millionaire” ist geradlinig
unbeschwert, wurde aber nicht leichtfertig zusammengestückelt.
Das härtere “Balls To Picasso” folgte 1994 nach Dickinsons Abschied von MAIDEN, und wer ihm im Zusammenhang mit seinem Einstand noch zu viel Freizeit unterstellte, die eine "lustige" Holiday-Scheibe nach sich gezogen habe, musste nun neidlos gestehen, dass es der Mann sehr ernst meint. Der Knoten war geplatzt, und der einstweilige Befreiungsschlag von allzu rigiden Metal-Konventionen gelang dem Briten auf ganzer Linie. Von jeglichen Erwartungen entkoppelt wagte er nach seinem Weggang 1993 erstmals den schicksalsschweren Schulterschluss mit Produzent Roy Z, der sein hauptamtlicher Gitarrist und zuletzt auch Inspirator zur Neuentdeckung metallischer Härte werden sollte
Als Studioband fungierten bei den Arbeiten an “Balls To Picasso” TRIBE OF GYPSIES, die Latino-Rocker um den Knöpfedreher selbst, und aus unerfindlichen Gründen fristet die Scheibe ein relatives Mauerblümchendasein in Dickinsons Katalog, woran er womöglich auch selbst schuld war, weil er im weiteren Verlauf seiner Solokarriere wenig davon live spielte. So gilt es nun einmal mehr den unterschätzten Klopfer 'Cyclops' und das fantasievolle '1000 Points Of Light' wiederzuentdecken, bei 'Laughing In The Hiding Bush' mitzulachen und während 'Tears Of The Dragon' - einem definitiven Konzert-Standard - Gänsehaut zu bekommen.
Das Album hat den Wandel des Zeitgeistes besser überstanden als das erste, das noch stark den 1980ern verhaftet war, allerdings auch offensichtlichere Hits bot. Falls “Balls To Picasso” jedoch eines schaffte, dann stellte es die Weichen für alles weitere … wozu der Künstler jedoch erst einen Umweg gehen musste, und zwar über ein symbolisches Seattle als Ursprung des kommerziellen Durchbruchs von sogenanntem Alternative Rock. Ebendiesen meinte viele, auf Dickinsons drittem Alleingang zu hören, doch “Skunkworks” (1996) ist rückblickend bewertet kein wirklicher Stilbruch, sondern ein einfach nur zeitgemäßer produziertes und strukturell um Ballast bereinigtes Werk. Der irrtümliche Eindruck wurde vermutlich dadurch verstärkt, dass sich Bruce - oh Schreck! - die Matte kürzte.
Wagemut bezeugte Dickinson in der zweiten Hälfte der 1990er nicht nur dadurch, dass er sich die Haare abschnitt, sondern auch mit der Wahl von Jack Endino für die Produktion, die prompt für hochgezogene Augenbrauen sorgte. Zudem nahm er junge Wilde in seinen Kader auf, etwa den Bassisten Chris Dale, kurze Zeit später Mitglied von BALANCE OF POWER und live erst 2017 mit MONUMENT unterwegs. Anscheinend hatte sich Mr. Airraid Siren kaum als Solokünstler etabliert, da machte er eine Kehrtwende und schien sich in die fett angeschwollene Grunge-Szene drängeln zu wollen, was ihm nicht wenige Fans übelnahmen, doch das Ergebnis weist viele Vorzüge, deretwegen es eine Neubewertung verdient hat.
Durch “Skunkworks” zieht sich eine dezent düstere Stimmung, wobei der Titel im Zusammenhang mit dem Unternehmen Lockheed an die Vorliebe des Sängers für alles Aviatorische anspielt. Ursprünglich sollte dies auch der Name der zur Realisierung zusammengestellten Band sein, der übrigens keine lange Halbwertszeit beschieden war - im Gegensatz zur Musik. Texte mit Science-Fiction-Flair sorgen für ein einheitliches Bild, während die Eckpunkte ‘Space Race’, ‘Back From The Edge’ und ‘Inside The Machine’ einwandfrei zur Orientierung dienen, wenn man sich diese etwas andere Bruce-Mucke erschließen möchte.
Was dann auf den Fuß schon ein Jahr später folgte, macht mit dem heutigen Wissen über die musikgeschichtliche Entwicklung glauben, Dickinson habe die Zeichen der Zeit erkannt, denn “Accident Of Birth” bot 1997 knallharten traditionellen Metal, der die alten Weggefährten des Tausendsassas verdammt alt aussehen ließ. Metal wurde wieder salonfähig, und war das solistische Schaffen der Ikone bis dahin zwiespältig rezipiert worden, deckten sich die Meinungen von nun an allerorts, zumal das beinahe Unfassbare in Form von Adrian Smiths Rückkehr zu Bruce eintrat. Er und Roy Z bestellen das Feld als Impulsgeber, als habe der Sänger einen kräftigen Tritt in den Hintern gebraucht. Die Scheibe pfeffert so druckvoll aus den Boxen wie bis heute keine von MAIDEN und vereint Tradition mit einer stählernden Gegenwart, die bis heute andauert.
Will heißen: “Accident Of Birth” ist ein völlig altersloser Genre-Klassiker, angefangen beim fast noisigen ‘Freak’ über die Halbballade‘Taking The Queen’ und den unverwüstlichen Singalong ‘Road To Hell’ bis zum rührenden Doppel aus 'Arc Of Space' und 'Omega', nicht zu vergessen das lässig groovende 'Starchildren'. GYPSIES-Basser Eddie Casillas (auch WARRIOR) reichte mit diesem Album so etwas wie seine Magisterarbeit ein - sein Spiel ist gerade unterm Kopfhörer verfolgt ein aufregendes Vergnügen - während Schlagzeuger David Ingraham verboten gut swingt und die Hooks vom Fließband zu fallen scheinen.
Der Frontmann kam nie dazu, den überdrehten Cover-Kasper Edison (augenzwinkernd für "Eddie's son") als Maskottchen zu etablieren, weil sich seine Solokarriere letztlich als Interimsphase erwies, doch das in Farbgebung und Motiv grelle Artwork spiegelt den aggressiven Biss der enthaltenen Songs wider. Der heavy Sound, den die beiden Klampfer ganz ohne sieben Saiten Platz bietende Surf-, äh … Griffbretter erzeugten, sollten sie bald darauf ins nachgerade Brachiale überführen. Auftritt “The Chemical Wedding” …
1998 (unglaublich, die hohe Frequenz, mit der Bruce Spitzenqualität veröffentlichte) erschien dieses ultimative Meisterwerk des Sängers und wurde gekrönt von einem faszinierenden Textkonzept, das ihn als einen der Lyriker schlechthin nicht nur im Metal-Bereich adelte. Der Ohrwurm 'The Tower', dessen Bass-Riff mittlerweile wohl nur unwesentlich weniger legendär als jenes des jungfräulichen 'Wrathchild' ist, schien die zu jener Zeit sensationelle Wiedervereinigung von IRON MAIDEN einzuläuten, wonach die zum Sextett Gewordenen ihren eigentlichen kommerziellen Höhenflug (auch und gerade dank Dickinson am Steuerruder) erst noch erleben sollten.
Trotz kompromisslos eiserner Ausrichtung bietet dieses Monster, der Zenit aller Dickinson'schen Alleingänge, eine außerordentliche Vielfalt. Das monumentale 'Book Of Thel' schraubt sich mit seinem bedächtigen Aufbau zu einem Mini-Drama hoch, und mit dem pastoralen 'Jerusalem' erweist Bruce seinen Prog-Idolen EMERSON LAKE & PALMER die Ehre, als sei das finstere ‘King In Crimson’ als Eröffnung nicht bereits ein Wink mit dem Zaunpfahl gen Artrock gewesen. Tatsächlich ist dieses Album sein komplexestes, obgleich es wieder Hits in hoher Dichte enthält.
Die modern stakkatohafte Anmutung einiger Parts dreht der Nu-Metal-Szene eine lange Nase, und die mystischen Lyrics, mit denen der Schöpfer den Dichter William Blake in einem neuzeitlichen Kontext interpretiert, um sich auch im Rahmen eines dubiosen Spielfilm eingehender mit dem Okkultisten Aleister Crowley bzw. Alchemie zu beschäftigen, ergeben eines der seltenen Konzepte, in die man sich richtig vertiefen kann. Dickinson strafte auf intelligente Weise ohne elitäre Dünkel alle Lästerer Lügen, die Metal-Texte kategorisch als banal abstempelten, setzte sich selbst ein Denkmal und stellt selbst eine süchtig machende Legierung her, die bis heute Gold wert ist.
Im Anschluss herrschte zunächst Saure-Gurken-Zeit für Anhänger von Bruce Dickinsons Alleingängen. MAIDEN wurden eine unfassbar erfolgreiche Band, und “Tyranny Of Souls” wirkte nicht nur deshalb wie ein Nachsatz, weil eine längere Weile verstrich, bis es erschien. 2005 erschienen platziert sich die Scheibe ungefähr genau zwischen ihren beiden Vorgängern, sowohl in puncto Ausrichtung als auch qualitativ, wobei die Urheber, deren Besetzung konstant geblieben war, geringfügige Variationen an ihrer Originalrezeptur vornahmen.
Die Tyrannei entstand im Sog des aufsehenerregenden MAIDEN-Comebacks "Brave New World", weshalb Dickinson sieben Jahre dafür benötigte, obwohl das Ergebnis wieder wie aus einem Guss klingt. Anders als zuvor, blickt in den Texten häufiger in sich selbst hinein, wohingegen er sich zuvor etwa dem alttestamentarisch gottesfürchtigen Christentum des 19. Jahrhunderts bzw. dem Leben und den Werken eines bis heute geheimnisumwobenen Schriftstellers aus seiner Heimat widmete. Daraus ergeben sich konzeptionell ungebundene Stücke wie der Hardrock-Rückgriff ‘Devil On A Hog’ und ganz klassischer, aber immer noch zackig gespielter wie produzierter Melodic Metal (‘Abduction’).
Das proggige Meisterwerk ‘Navigate The Seas Of The Sun’, auch wenn er sich mit den zweifelhaften Theorien von Erich von Däniken befasst, nimmt eine Ausnahmestellung in Dickinsons Katalog ein, und mit dem Titelstück, das sich auf Shakespeares "Macbeth" beruft, sowie ‘Kill Devil Hill’, einem Tribut an die Gebrüder Wright , welche 1903 den Startschuss für die weltweite Luftfahrt gaben, kann es der Sänger letzten Endes doch nicht lassen, sein enzyklopädisches Wissen in seine Musik einfließen zu lassen. “Tyranny Of Souls” wirkt schlussendlich so bunt gefiedert wie fast 20 Jahre zuvor “Skunkworks”, bloß ohne "artfremde" Elemente und mit einem Hauch Altersweisheit versehen. Von einem müden Großvater konnte und kann im Zusammenhang mit Bruce jedoch keine Rede sein. Kommt da noch was? Na? Bitte!
Zur Haptik und Optik dieses prachtvollen Boxsets: Die Scheiben erscheinen ganz klassisch so, wie sie zur Erstveröffentlichung vorgesehen waren, also ohne die zwischenzeitlich im Rahmen von CD-Wiederveröffentlichungen dazugegebenen Bonustracks. Das ist zwar Schade, aber vermutlich auch nicht im Sinne der Macher dieser Box, die sich damit in erster Linie an Liebhaber statt Komplettisten richten. Ein bisschen ärgerlich ist dabei nur, dass die gleichen Liner-Notes, auch wenn sie lesenswert sind, auf jede einzelne Innenhülle gedruckt wurden. Einmal auf einem zusätzlichen Einleger hätten sie genügt. Darüber hinaus gibt es an der Verarbeitung, geschweige denn am Klang, irgendetwas auszusetzen. Es handelt sich freilich um ein Industrieprodukt, das aber verglichen mit anderen Major-Vinylen abgesehen von seiner Auflagen-Limitierung relativ verschwenderisch aufgemacht wurde. Die Box wird so schnell nicht kaputtgehen und gefällt dank Glanzlackierung, die Platten stecken in stabilen Kastentaschen.
Falls man das Ding in Dickinsons eigenem Webshop vorbestellte, bekommt man noch ein kleinformatiges Poster geschenkt, doch das ist nur Makulatur in Anbetracht dieser wahrhaft titanischen Musik. Bei "Soloworks 1990-2005" handelt es sich schlicht und ergreifend um ein Fest, ach was … ein Manifest wie ein Sechser im Lotto.
FAZIT: Wer bereits die opulente MAIDEN-Box eingetütet (oder besser gesagt mit dem Gabelstapler am Plattenladen abgeholt bzw. sie vom Online-Händler ankarren lassen) hat, muss zwangsweise erneut tief in den Geldbeutel greifen, denn das hier ist Pflichtprogramm, und zwar so was von! <img src="http://vg04.met.vgwort.de/na/50d8d5f67075469ba2dfe1f6c318e674" width="1" height="1" alt="">
Punkte: 15/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 28.10.2017
BMG
lange
27.10.2017