Wer braucht heute noch Enzyklopädien in gedruckter Form? Das Internet bietet doch ein unendlich verzweigtes Schneeballsystem an Listen, Foren, Wikis, Rezensionen, Kommentaren und so weiter. Wer sollte sich hinsetzen und einen 600 Seiten starken Wälzer über Progressive Rock lesen?
Nein, das ist keine rhetorische Frage, sondern eine ziemlich berechtigte.
Wer also von dicken Büchern prinzipiell die Finger lässt, vor allem, wenn sie in englischer Sprache verfasst sind, der kann an dieser Stelle getrost zu lesen aufhören – aber, wer keine Geduld mit vielen Buchstaben hat, der kann meistens auch mit überlangen Prog-Epen nichts anfangen – behaupte ich mal.
Charles Snider behauptet auch etwas: Nämlich eine Definition von Progressive Rock angeben zu können. Ohne sich groß um den Terminus „progressiv“, also etwa „auf Fortschritt ausgerichtet“ zu kümmern, beschreitet er einen eher intuitiven Pfad und definiert Prog als die Musik einer Ära, die ihre Blütezeit in den 70ern hatte. Soweit so schlüssig. Sein Versuch, sein Vorgehen „wissenschaftlich“ zu untermauern, indem er die Geburtsjahre aller im Buch behandelter Musiker vergleicht, gerät aber zum ringschlüssigen Schuss ins Ofenrohr – für die Analyse, dass alle Musiker, die in den 70er etwa 30 Jahre alt waren, in den 40er geboren wurden, muss man kein Raketenwissenschaftler sein.
Aber um das auf dem Broadway herumliegende Lamm nicht von hinten aufzuzäumen: „Strawberry Bricks“ bietet folgendes Programm:
1. Einen Pro- und Epilog, der die progressive Ära in die (Musik-) Geschichte einbettet, beginnend mit dem Rock‘n‘Roll der 50er und endend mit dem gegenwärtigen Stand der Dinge in Sachen Prog, sei es die Wiederbelebung der alten Dinosaurier oder das Schaffen neuer Bands (die irgendwie Prog sind und irgendwie auch nicht, weil sich ja nicht der Nachkriegsgeneration angehören?) wie PORCUPINE TREE. Sehr angenehm hierbei ist das Augenmerk, das Snider auf den Unterhaltungswert seiner Schreibe legt und seine Ausführungen oft mit persönlichen Erlebnissen unterfüttert. So gelingt es ihm, seine Begeisterung für das Genre spürbar und nachvollziehbar und – was das wichtigste ist – ansteckend zu machen.
2. 476 (!!!) Albenkritiken, beginnend mit „Sgt. Pepper“ (1967) und endend mit ASIA‘s „Asia“ (1982). Und was für Kritiken: Wie aus dem Lehrbuch doziert sich Snider leichtfüßig durch sein Mammutprojekt, in einem sachlichen, aber engagierten Tonfall, behandelt er knapp, aber aussagekräftig Werk für Werk, bringt (natürlich) Musik und Musiker, Anekdoten und sonstige Fakten zur Sprache, sowie welche Stelle das betreffende Stück im Themenbogen „Progressive Rock“ einnimmt. An dieser Stelle sollte darauf hingewiesen werden, dass „Strawberry Bricks“ eben nicht nur eine Enzyklopädie ist, die man bei Bedarf aufschlägt, um gezielt etwas nachzulesen. Denn auch die auf den ersten Blick vielleicht trocken erscheinende, streng chronologische Ausarbeitung lässt sich gut von vorn bis hinten lesen, wobei natürlich nach einer gewissen Zeit das Informationsaufnahmevermögen erschöpft ist. Spätestens rückblickend erschließt sich dann das detaillierte Mosaik, das der akribische Sekretär der schwarzen Rille da zusammengesetzt hat.
3. Sechzehn Interviews mit verschiedensten Künstlern, unter anderem mit dem kürzlich verstorbenen John Wetton, die diese „raw and uncut“ zu Wort kommen lassen, mit nur wenigen Einschüben des Autors.
4. Listen, denn jeder braucht Listen, vor allem angehende Plattensammler. Deren Bedürfnisse befriedigt Snider mit einer Liste für „Einsteiger“ und „Fortgeschrittene“, die jeweils 33 Alben umfassen. Dazu gibt‘s noch eine Liste mit Alben der neuen Progressive-Generation.
Und dann ist es vorbei. Und warum sollte man das Buch lesen?
FAZIT:
1. Fakten, Fakten: Natürlich kann ein einziges Buch in puncto Informationsgehalt gegen das Internet nicht anstinken. Aber auf 632 Seiten, verfasst von einem Progressive-Crack und mehrmals überarbeitet (denn es handelt sich hierbei um die erweiterte und überarbeitete Neuauflage des schon bestehenden Buchs) und korrigiert, findet der Interessierte sicher genug, um für längere Zeit, wenn nicht für ein ganzes Leben in Sachen Prog bedient zu sein.
2. A good read: Neben seinem Informationsgehalt bietet sich „Strawberry Bricks“ auch schlicht als entspannte Lektüre an, man muss kein Oxford-Englisch sprechen, um sich hier gut aufgehoben und unterhalten zu fühlen.
3. Perspektive: Die größte Leistung des Buches ist es, dem Leser die Ära des Progressive Rock introspektiv näherzubringen. Snider als nicht nur Liebhaber, sondern auch Zeitzeuge gelingt es, ein so deutliches Bild jener Zeit zu malen, dass man durch diese Brille nicht nur eine neue Sicht auf das Genre, sondern auch auf die Entwicklung der Rockmusik im Allgemeinen gewinnt.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 29.06.2017
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632 Seiten
21.04.2017