Nicht nur aus familiärer, sondern auch musikalischer Sicht ist CHRIS JAGGER der kleine Bruder von dem großen ROLLING STONES-Frontmann MICK. Das hat allerdings nichts über die Qualität der Musik des vier Jahre jüngeren Chris zu sagen, eher etwas darüber, dass er völlig unaufgeregt und, ohne ständig seinen viel berühmteren Bruder ins Spiel zu bringen, konsequent als Sänger, Gitarrist und Waschbrett-Spieler sein eigenes Ding zwischen Cajun und Country, Folk und Blues, Jazz und Rock durchzieht. Und das ist nicht nur aus Sicht des kleinen, sondern auch des großen Bruders gut so, wobei natürlich Mick und Chris die eine oder andere Nummer auch gemeinsam verwirklichen, sogar aus Anlass des Todes ihres Vaters im Jahr 2006 einen todtraurigen Blues schreiben und <a href="https://www.youtube.com/watch?time_continue=71&v=fg50xMvuCzA" rel="nofollow">im dazugehörigen Video</a> mit Fotografien von Joe Jagger illustrieren oder Mick auf ein paar Songs seines Bruders, wie beispielsweise <a href="https://www.youtube.com/watch?v=NXn4UZdS19E" rel="nofollow">„DJ Blues“</a>, singt und Mundharmonika spielt, wobei im Gegenzug auch Chris maßgeblich an den zwei megaerfolgreichen Spätachtziger-Alben „Dirty Work“ und „Steel Wheels“ der ROLLING STONES mitwirkte.
Nun also dürfen wir den hochinteressanten, weniger bekannten Jagger-Bruder, der nicht etwa in Micks Schatten steht, sondern sich seinen ganz eigenen blues-folkig-jazzigen Sonnenplatz gesucht hat, mit dieser gelungenen Zusammenstellung seiner besten Songs aus über 20 Jahren sowie der sehr informativen und selbst für Freunde der Stones beachtenswerten <a href="https://www.youtube.com/watch?time_continue=20&v=91_6PuJGbzY" rel="nofollow">DVD-Zugabe „I Got The Blues In Austin“</a> bewundern. Der letzte Satz, mit dem Chris Jagger seine Doku abschließt, zeigt zugleich welchen Stellenwert der Blues auch ganz speziell für ihn hat, was natürlich in der durch ihn handverlesenen Zusammenstellung von „All The Best“ sehr deutlich zum Ausdruck kommt: „Die Kraft und Stärke des Blues liegt darin, dass er die Menschen miteinander vereint – und darum ist der Blues unsterblich!“
Eigentlich kommt <a href="https://www.youtube.com/watch?v=Zvwxy3Y-N3c" rel="nofollow">an diesem Album</a> kaum jemand vorbei, der entweder den Blues oder CHRIS JAGGER oder die ROLLING STONES oder richtig gute Dokumentationen in diesem Umfeld liebt. Aber auch die PINK FLOYD-Freunde, denen jede noch so kleine Mitwirkung eines ihrer Prog-Götter bei anderen Bands oder Musikern wichtig ist, werden hier zugreifen müssen – schließlich spielt DAVID GILMOUR bei mehreren Songs des Albums Gitarre … und dann singen doch tatsächlich noch MICK JAGGER und SAM BROWNE gemeinsam mit Chris, wobei besonders die Ballade „It‘s Amazing What People Throw Away“ bewunderns- und beachtenswert ist, da hier Jagger nicht nur ein Duett mit SAM BROWNE über die Dinge, die andere so wegwerfen, singt, sondern DAVID GILMOUR ausgiebig Gitarre dazu spielt. Wenn dann mit „Lights Of The City“, samt Saxofon und Fiddle, eine Bar-Jazz-Country-Nummer erklingt, hört man bereits die große Spannbreite innerhalb der Chris-Jagger-Songs heraus.
Der Geheim-Favorit dieser Zusammenstellung aber ist die Blues-Ballade „Junkman“, die viel von Mr. Slowhand CLAPTON sowie genau das PETER GREEN-Feeling hat, welches wir von den frühen FLEETWOOD MAC, als die noch auf dem „Albatros“ unterwegs waren, kennen.
Natürlich gibt‘s <a href="https://www.youtube.com/watch?v=NN0qkPR-UiA" rel="nofollow">auf dieser „Best Of“</a> auch – oh, Nachtigall ick hör‘ dir trapsen – EINEN völlig neuen, bis dato unveröffentlichten Song: <a href="https://www.youtube.com/watch?v=O-bRejKFDlY" rel="nofollow">„Avalon Girls“</a>! Eine frische, richtig gut tanzbare Blues-Rock-Nummer, die aus Anlass seines Auftritts beim „Glastonbury Festival“ entstand: „Weil ich schon 20 Jahre hier in der Gegend lebe, hatte ich die Idee, den Song den Ladies zu widmen, die diesen Ort besonders machen. Wann auch immer wir in der Stadt spielen, stehen die Mädels auf und tanzen. Das liebe ich. Es gibt da kein Getue, sie machen es einfach. Und da ist mir die simpe Textzeile eingefallen: ‚When you play your music, they like to dance‘. […] Ich hoffe, die Avalon Girls mögen ihn.“
Wahrscheinlich heizt solch Song in erster Linie nicht die Käuferlaune an, dafür übt vielmehr die beigefügte DVD ungeahnte Reize aus und ist ihr Geld allemal wert, weil Chris nicht nur Musiker ist, sondern auch Modedesigner, Theatermann und Journalist sowie Radio-Moderator ist. „I Got The Blues In Austin“ dreht sich um seine Zeit als Radiomoderator – konkret das Jahr 2008 – während der er gemeinsam mit seinem Kollegen John Peyton echte Blues-Legenden trifft und interviewt sowie mit ihnen gemeinsam Musik macht und außerdem ein ROLLING STONES-Konzert mit namhafter Begleitung besucht. Wahrscheinlich bedient sich deshalb der Titel der Dokumentation in schöner Doppeldeutigkeit auch bei dem Stones-Song <a href="https://www.youtube.com/watch?v=XyV-jkj0EDI" rel="nofollow">„I‘ve Got The Blues“</a> vom 1971er-Album „Sticky Fingers“.
Sehr persönlich, fast intim wird‘s bei der Begegnung mit einem anderen Musiker, der ebenfalls einen noch namhafteren Bruder hat: JIMMIE VAUGHAN. Beide sprechen ausgiebig über ihre berühmt-berüchtigten Brüder, wobei parallel jede Menge Fotos, mit der Kindheit beginnend, eingeblendet werden, die aus dem Privatbesitz der beiden stammen. Auch der tragische Tod von STEVIE RAY VAUGHAN bei einem Hubschrauberabsturz kommt dabei zur Sprache, bei dem Stevie Ray nach einem gemeinsamen Konzert mit seinem Bruder Jimmie sowie Robert Cray, Buddy Guy und Eric Clapton während dessen „Journeyman“-World-Tour am 27. August 1990 kurzentschlossen, weil noch ein Platz frei war, nachts den Hubschrauber gemeinsam mit drei Clapton-Crew-Mitgliedern und dem Piloten bestieg. Im Nebel stürzte die Machine ab und keiner der Insassen überlebte.
Besonders faszinierend ist jedoch die Begegnung mit dem Pianisten PINETOP PERKINS, der in seinem hohen Alter von 95 Jahren leidenschaftlich gerne Zigarillos raucht und später bei einem Backstage-Besuch vor einem ROLLING STONES-Konzert Mick Jagger und dessen Sohn sowie den Stones-Keyboarder CHUCK LEAVELL glücklich macht, indem er sich das Keyboard, das dort steht, schnappt und gemeinsam mit Leavell daran jammt.
Auch der 77jährige HUBERT SUMLIN von HOWLIN‘ WOLF beeindruckt, besonders wenn er darüber spricht, wie es zu dem überraschenden gemeinsamen Auftritt mit den ROLLING STONES im Madisons Square Garden kam.
Leider aber gibt es hier ein trauriges Ende, das während der Dokumentation nicht absehbar war: drei Jahre nach den Aufnahmen sterben beide Musik-Legenden im Jahr 2011, denen daraufhin diese DVD-Doku gewidmet wird.
FAZIT: Mit „All The Best“ gibt es ein dickes Musik- und Doku-Paket von CHRIS JAGGER, dem vier Jahre jüngeren Bruder von Mick, zu hören und sehen, das neben den besten Aufnahmen aus 20 Jahren – unter anderem mit Mick Jagger, David Gilmour, Sam Brown, Dave Stewart, John Etheridge und Leo Sayer – die sich zwischen Blues, Country, Rock, Cajun, Jazz und Folk bewegen, zugleich eine für alle Blues-, aber auch ROLLING STONES-Freunde hochinteressante, dreiviertelstündige Dokumentation mit dem Titel „I Got The Blues In Austin“ aus dem Jahr 2008 sowie ein reich bebildertes 16seitiges Booklet enthält. Zwar kann es nur einen Mick Jagger geben, aber dahinter sollten wir auf keinen Fall seinen Bruder Chris übersehen.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 02.11.2017
Paul Emile, Jim Mortimore, Kit Morgan, Danny Thompson
Chris Jagger, Sam Browne, Mick Jagger
Chris Jagger, David Gilmour, John Etheridge, Ed Deane, Kit Morgan, Jim Mortimore, Pete Ridley, Melvin Duffy
Charlie Hart, Ben Waters
Malcolm Mortimore, Paul Atkinson, Caspar Lawal
Charlie Hart, Ashley Reed, Elliet Mackrell (Fiddle), Andy Mckay, Andy Sheppard (Saxofon), Kit Morgan (Oud), Elliet Mackrell (Viola), Chris Jagger (Harfen), Charlie Hart (Akkordeon), Mick Jagger (Mundharmonika), Willie Garnett Section (Hörner)
BMG
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20.10.2017