Wagen wir mal wieder einen musikalischen Blick in Richtung Australien, Frankreich, England sowie ein paar finnische Wurzeln und wissen fast von vornherein, dass so ein Blick wahrscheinlich eine angenehme Überraschung zutage fördert. Unfassbar, dass diese Überraschung schon in unseren Breiten zwei Jahre unentdeckt zu bleiben schien.
Wie schön, dass die Musikreviews.de wieder ein wenig musikalische Schatzgräber spielen dürfen!
Und was haben wir da ausgegraben?
Einen echten Tiger!
Und was für einen: „We Have Tigers“ von INGA LILJESTRÖM & MICHAEL LIRA.
Die Sängerin und der Multiinstrumentalist.
Hier trifft nicht die Schöne auf das Biest, sondern auf den Musik-Zauberer und Klangexperimentierer.
In Australien – ja, eben weit überm großen Teich – stellte man bereits 2006 zum Liljeström-Debüt „Elk“ (2005) in der Canberra Times fest: „Ihre Stimme ist unvergleichlich, voller Gefühl und weckt die unterschiedlichsten Stimmungen!“, und katapultierte sie gleich in die Top 5 der „Independent Australian Dance Charts“.
Der Komponist, Multiinstrumentalist und Arrangeur Lira wird wohl dadurch auf die Sängerin aufmerksam geworden sein. Er ist vielfacher australischer Grammy-Gewinner, dessen Leidenschaft sich nicht nur in der Musik, sondern auch ungewöhnlichen Horror-Filmen entfaltet.
Was liegt da nicht näher, statt nur ein paar Zombies zu wecken, gleich noch gefährliche Tiger mit auferstehen zu lassen und daraus ein bedrohliches Konzept-Album mit der finnischen Ausnahmesängerin zu schaffen, das einen von der ersten bis zur letzten Minute in seinen gruseligen Bann zieht. Gruselig und grauenhaft von der textlichen Handlung, aber begeisternd und atmosphärisch von seiner musikalischen Ausrichtung her.
Schaurig schön!
Ein bisschen so, als hätte sich TORI AMOS nach ihrem Ausflug ins deprimierende „Choirgirl Hotel“ entschieden, Jack Nicholson im Overlook Hotel von „Shining“ zu besuchen.
Klingt das nicht beängstigend?
Klingt das nicht faszinierend?
So jedenfalls klingt „We Have Tigers“!
Wie selbstverständlich drängt sich schon nach dem ersten Hördurchgang noch ein weiterer Name von einer Ausnahmemusikerin auf, die im Grunde bisher als einzigartig galt – doch bis dahin kannte der Kritiker dieses Album samt seiner unheimlichen Atmosphäre, die einen in den Musik-Keller unseres Unterbewusstseins sperrt, noch nicht: JOANNA NEWSOM!
Egal, ob in <a href="https://www.youtube.com/watch?v=pdXWA2Qsirg" rel="nofollow">„Bury Me Beneath The Willow“</a> MORRICONEsche „Spiel mir das Lied vom Tod“-Motive oder jede Menge schaurige DAVID LYNCH-Passagen auftauchen und natürlich TITO & TARANTULA durchs Motel von „From Dusk Till Dawn“ stolpern, während ein paar Körperteile durch die Luft fliegen, dieses Album ist in seiner Gesamtheit der pure Tripp durch unser Kopf-Kino, das sich gerade für einen ganz besonderen Horror-Film entschieden hat.
Dunkle, epische, orchestrale Balladen beschreibt das, was auf „We Have Tigers“ eine knappe Stunde lang passiert, wohl am besten.
Natürlich gewittert es darin auch und der Regen strömt ganz ähnlich wie bei ALAN PARSONS PROJECT, als die sich mit EDGAR ALLAN POE auf den Weg zum „House Of Usher“ machten.
Nur dass „When I Was A Young Girl“ ausschließlich aus einem Gewitter und der unglaublichen Stimme – in bester JANIS JOPLIN-“Mercedes Benz“-Manier gesungen -, besteht. Wer hier keine Gänsehaut bekommt, der geht zum Gefühlezeigen auch nur in den Keller. Und wenn gleich danach die <a href="https://www.youtube.com/watch?v=6tecgl81ZXY" rel="nofollow">„Horses“</a> auf uns zureiten, so als würden sie mit einem Stück den kompletten Soundtrack für einen GREENWAY-Film vom ruhigen Trab bis zum bombastischen Galopp verwirklichen, bleibt ein rundum verblüffter Hörer zurück, der noch mit den Gedanken zu kämpfen hat, wie er all die „Horses“-Stimmungen verarbeiten kann. „Horses“ klingt wie nach den Wildpferden der Freiheit, die niemand zu zähmen vermag: „Bring your wild horses home to me / You‘re the drunked in a storm / Bring your wild horses home / Horses home.“
Dann wiederum trifft Klassisches auf Trompeten und anderes Gebläse, Banjos auf Grillen-Zirpen und Synthiewellen, aber auch E-Gitarren auf ganz offensichtlichen PHILIP GLASS- und MICHAEL NYMAN-Minimalismus plus Orchestrales.
Das pure, kunterbunte Musik-Grusel-Kaleidoskope erwartet den Hörer auf „We Have Tigers“, die bei „Ash ‘N‘ Smoke“ auch mal ein paar Flöten lauschen, die wie ein verängstigtes Käuzchen klingen, während sich ihnen ganz langsam aus der Dunkelheit bedrohliche Streicher nähern.
Man muss verdammt lange suchen, um ein dermaßen atmosphärisches Album zu finden, das einen so in seinen Bann zieht.
Wir jedenfalls haben es gefunden!
FAZIT: „We Have Tigers“ von INGA LILJESTRÖM & MICHAEL LIRA nimmt gefangen und fesselt – aber es verlangt vom Hörer, der sich intensiv auf dieses Album einlässt, auch verdammt starke Nerven. Im Grunde passt eigentlich alles, was uns hinter dem als Collage gestaltetem Digipak erwartet: das 16seitige Booklet mit weiteren Collagen, allen Texten und mystischen Bildern. „We Have Tigers“ ist ein Album geworden, das wie ein besonders gelungener Horror-Film nicht von Schock-Bildern oder nervenden Plattitüden lebt, sondern von einer Atmosphäre, die er hintergründig aufbaut, bis wir von ihr komplett gefangen sind und nicht mehr aus ihr loskommen. Wer sich Zeit für dieses Album nimmt, der wird 50 Minuten lang schaurig, schön und natürlich sehr finster-leidenschaftlich von dem cinematischen Duett, das wie ein ganzes Orchester klingt, ausgiebig belohnt werden.
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 06.03.2017
Michael Lira
Inga Liljeström
Michal Lira, Inga Liljeström
Michael Lira
Michael Lira
David Weir (Banjo), Aeronique Serret (Geige)
Eigenvertrieb
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25.08.2015