Wenige Sänger, die eine Zeitlang einer legendären Band vorstanden, sind auch hinterher so fest im Sattel sitzengeblieben wie Ray Wilson nach seinem Ausscheiden bei GENESIS. Der Mann, der erstmals mit STILTSKIN ins Rampenlicht trat und ungerechtfertigterweise als One-Hit-Wonder abgestempelt wurde, tourt weiterhin wie wahnsinnig und hat noch nie belanglose Alben herausgebracht, weshalb ein Doppeldecker wie der vorliegende Sinn ergibt.
Die Rockwelt hat's ja mit Jubiläen, als gebe es nicht ständig auch andere Gründe zum Feiern, aber man kann sich abwegigere Anlässe als jene vorstellen, die den Ausschlag für "Time & Distance" gaben. Schließlich wird Wilsons einzige Platte mit den streitbaren britischen Pop-Proggies ("Calling All Stations") 2017 20 Jahre alt und hat sich erstaunlich gut gehalten, was nicht zuletzt an den kompositorischen Beiträgen des gebürtigen Schotten liegt. Dieser gedenkt zweitens seiner künstlerischen Emanzipation als Einzelkämpfer im Rockgeschäft - womit wir bei der inhaltlichen Strukturierung von "Time & Distance" wären …
Es handelt sich natürlich um ein Live-Album, mitgeschnitten in der Hamburger Markthalle und in den Niederlanden, sowohl im Cultuurpodium Boerderij in Zoetermeer als auch im Parkstad Limburg Theatre in Heerlen. Zugegeben, die Aufteilung der 25 enthaltenen Tracks erfolgte ein wenig zu offensichtlichen Gesichtspunkten, denn der Barde hat schlicht und ergreifend GENESIS-Stoff (erste CD) von seinem Schaffen abseits jener Band (zweite Scheibe) getrennt. Das hätte nicht sein müssen, weil abgesehen von den Klassikern der Legende, von denen er nicht die Finger lassen kann (die Wahl von 'Carpet Crawlers' oder 'Mama' mag empfindlichen Fan-Seelen immer noch wie ein Sakrileg vorkommen), ohnehin nahezu alles Wilsons eigene Handschrift trägt.
Von den Alleingängen darf man insbesondere das scheinbar alterslose Doppel aus 'Old Book On The Shelf' und 'Another Day' hervorheben, darüber hinaus im Grunde genommen sämtliche STILSKIN-Schoten, die er platzen lässt, und zwar ohne dass man 'Inside' vermissen würde. Von GENESIS wieder ragt nebem 'Congo' - war klar - gerade das nicht ganz so naheliegende Zeug heraus: das immer noch eindringliche 'Home By The Sea', Peter Gabriels anrührendes 'In Your Eyes' sowie das mancherorts nicht wenig gehasste 'Another Cup Of Coffee'.
All dies wäre jedoch unerheblich - das Programm könnte noch so ausgewogen zusammengestellt worden, der Sound auf Teufel komm raus hochglanzpoliert sein -, wenn man "Time & Distance" als Konzert-Nachlese nicht emotional beikommen könnte, doch der potenzielle Käufer darf beruhigt sein; falls überhaupt noch jemand Wilsons Charisma zweifelt, so sei verbindlich gesagt, dass die Atmosphäre trotz des Flickwerk-Charakters ausgesprochen authentisch wirkt, weshalb man sich regelrecht nach einem visuellen Gegenstück in Form einer DVD oder Blu-ray sehnt.
FAZIT: Ray Wilson wärmt einmal mehr würdevoll auf, was er in seinem musikalischen Leben bisher gestemmt hat, und darf sich auch wirklich etwas darauf einbilden. "Time & Distance" deckt ein in allen Belangen beeindruckendes Repertoire ab (mit kleinen Schönheitsfehlern, was Fremdinterpretationen angeht, aber darüber lässt sich wie üblich streiten) und sagt mit seinem Titel eine Menge über die momentane Befindlichkeit des Künstlers aus: Viel ist passiert über die Jahre hinweg, doch mit Abstand betrachtet hat er alles richtig gemacht. <img src="http://vg09.met.vgwort.de/na/72ca36bcbcdb4c4799b75284347df74d" width="1" height="1" alt="">
Erschienen auf www.musikreviews.de am 26.09.2017
Jaggy D / Soulfood
122:33
29.09.2017