Oh, welch Aufschrei erschallte heutzutage in unserer so scheinheilig mit jeder Menge Moral-Keulen regierten deutschen Leitkultur, wenn eine angesehene, berühmte Band ihr Album „Sex, Rauschgift und billiger Nervenkitzel“ nennen würde. Flowerpower, „Make love no war“, Antikriegsrebellion waren einmal – jetzt muss man aufpassen, was man sagt, damit nicht die moralinsauren Apostel aus Politik, Religion, Wirtschaft oder dem weltweiten digitalen Spinnennetz über einen herfallen. Irgendwem passt sowieso irgendwas nicht – und wums überfällt einen die Haudrauf-Mentalität der FSK-Kacker, die einem toleranzlos Falsch und Richtig erklären wollen.
Natürlich würden sie einem bestimmt auch als schlechtes Beispiel eine JANIS JOPLIN vorhalten, die sich durch ihren Drogenkonsum frühzeitig von diesem Erdenrund verabschiedete und nur noch die Erinnerungen an eine außergewöhnliche Sängerin hinterließ, welche noch heute als (trotzdem verdammt lebendige) Musik-Legende gilt, womit wir auch schon bei BIG BROTHER & THE HOLDING CO. und ihrer legendären Sängerin JANIS JOPLIN wären! Denn auch die hatten ein Problem mit diesem Album-Titel, der im Original tatsächlich „Sex, Dope & Cheap Thrills“ heißen sollte, dann aber im ähnlich prüden, erzkatholischen Land der tausend (UN-)Möglichkeiten auf „Cheap Thrills“ gekürzt wurde, dafür aber ein grandios von ROBERT CRUMB, dem „Ferkel-Comic-Künstler“, gestaltetes Comic-Cover erhielt.
Nun also gibt es endlich zum 50. Album-Geburtstag unter dem Originaltitel „Sex, Dope & Cheap Thrills“ dieses erste Major-Debüt von BIG BROTHER & THE HOLDING CO. aus dem Jahr 1968, das zugleich das letzte mit JANIS JOPLIN sein sollte, als fein remasterte und überarbeitete Doppel-LP-Fassung voller alternativer Aufnahmen. In den farbig bedruckten Innenhüllen kann man noch dazu Linernotes von Grace Slick, der JEFFERSON AIRPLANE-Sängerin, und David Getz, dem Schlagzeuger von BIG BROTHER & THE HOLDING CO., lesen.
Wer statt auf Vinyl zurückzugreifen, sich lieber als sammelnder Komplettier beweist, der hat noch dazu die Möglichkeit, eine überarbeitete Doppel-CD-Fassung von „Cheap Thrills“ mit 25 bisher unveröffentlichten Tracks aus den legendären Studio-Sessions des Jahres 1968 zu erwerben, die ebenfalls den ursprünglich geplanten Originaltitel trägt.
JANIS JOPLIN, die ihr Leben lang unter Minderwertigkeitskomplexen litt und sich wohl auch aus diesem Grunde sehr früh einen Ausweg daraus in den unterschiedlichsten Drogen suchte, war ein riesiger Fan der amerikanischen Blues-Sängerin BESSIE SMITH, die als „Kaiserin des Blues“ galt und die von Joplin in jungen Jahren regelrecht imitiert wurde, bis sie dann ihren ureigenen, noch heute unverkennbaren und einzigartigen Gesangsstil entwickelte, den man auf „Sex, Dope & Cheap Thrills“ in vollen Zügen genießen kann. Noch dazu spielt die Band so voller Power und mit einem Blues-Rock-Gefühl, dass es nun auch in dieser großartigen Sound-Qualität direkt von LP ein echter Hochgenuss ist, sich diese leidenschaftlichen und zugleich extrem professionell klingenden Aufnahmen rund um die 25-jährige Sängerin, die zu diesem Zeitpunkt nur noch zwei Jahre zu leben hatte, anzuhören. Das hat nichts mehr mit Nostalgie zu tun, sondern mit wirklich mehr.
Wann bitte hat es jemals eine Sängerin geschafft, mit solch einer Röhre ins Mikro zu flüstern, schreien, hauchen, kreischen...?
Oder um es mit den Worten der JEFFERSON AIRPLANE-Sängerin Grace Slick (Nachzulesen in den Linernotes zum Doppelalbum!) auszudrücken: „Dann hörte ich diese Stimme – Großer Gott! – Jedes Gefühl, das sie ausdrückte, war wie eine Detonation – absolut kompromisslos … Janis schaffte problemlos den Übergang von den biederen, bürgerlichen Fünfzigern in die tabulosen Sechzigerjahre! Wir alle profitierten von den neu gewonnenen Freiheiten und das spiegelte sich in der Musik wider. Dieses Album, das weltweit erfolgreich war, ermöglichte es allen an einem Phänomen teilzuhaben, das man normalerweise nur in der San Francisco Bay Area zu hören bekam. Und jetzt kommt eine Generation von neuen Hörern in den Genuss von ‚Cheap Thrills‘!“
Als am 12. August 1968 „Cheap Thrills“ erschien, katapultierte es sich sofort an die Chart-Spitze und hielt sich dort wochenlang. Auch spülte es den bis dahin ständig klammen Musikern gehörig Geld in die Kasse, was leider dazu führte, dass ihr Umgang mit den Drogen immer hemmungsloser wurde, worauf, ebenfalls auf der LP-Innenhülle nachzulesen, der Schlagzeuger David Getz eingeht: „Es scheint, als habe `Cheap Thrills' die Zeiten überdauert. Vielleicht deshalb, weil es das größte Werk einer großartigen Künstlerin ist – Janis Joplin. Hier ist aber auch hautnah zu spüren, was Big Brother & The Holding Company als Band ausmachte und ich würde sogar sagen, dass Big Brother und Janis mit ihrem Sound die psychedelische Gegenkultur San Franciscos verkörperten. Auf einem anderen, metaphorischen Level und aus der heutigen Perspektive betrachtet, ist ‚Cheap Thrills‘ eine Zeitkapsel des Jahres 1968. Dieses Jahr markierte wohl den Moment, als Big Brother, Janis und die ganze LSD-getränkte, komplett überdrehte Generation der 60er überkochte.”
Doch trotz all der damit verbundenen Schrecken und dem Tod Joplins mit gerade einmal 27 Jahren, hinterließen die Drogen auch solche Musiker wie JANIS JOPLIN oder JIMI HENDRIX, die unter ihrem Einfluss zugleich Musik schufen, die etwas für die Ewigkeit ist, auch wenn deren eigenes Leben viel zu kurz war!
FAZIT: BIG BROTHER & THE HOLDING CO. ist vielleicht für den Einen oder die Andere ein Bandname, der ihnen im ersten Moment nicht viel sagt. Hört man aber den Namen ihrer Sängerin, dann werden alle Alarmglocken laut schrillen und röhrend läuten: JANIS JOPLIN! Noch dazu der „unverschämte“ Albumtitel „Sex, Dope & Cheap Thrills“, der unter „Cheap Thrills“ vor 50 Jahren das Licht der Welt erblickte und nun in seiner ganzen Originalschönheit und einem ausgezeichneten Sound-Remaster sowie jeder Menge neuen Aufnahmen aus den 68er-Sessions seinen 50 Geburtstag feiern darf. Und spätestens wenn wir lesen, was die Sängerin von Jefferson Airplane zu diesem Album schreibt, dann können wir entfernt erahnen, was uns darauf erwartet: „Dann hörte ich diese Stimme – Großer Gott! – Jedes Gefühl, das sie ausdrückte, war wie eine Detonation – absolut kompromisslos!“
Erschienen auf www.musikreviews.de am 07.12.2018
Peter Albin
Janis Joplin, Sam Andrew, James Gurley
Sam Andrew, James Gurley
David Getz
Columbia/Legacy/Sony Music
78:40
30.11.2018