Wenn es in Frankreich derzeit einen wegweisenden Musiker gibt, der sich gegen alle Mustervorgaben und vermeintliche Regeln stemmt, aber trotzdem keine elitäre Avantgarde bedient, sondern theoretisch breite Hörerkreise anspricht, ist es Flavien Berger. Seinem Debütalbum, der Soundreise “Leviathan” von 2015, gingen zwei EPs voraus, die thematisch sehr unterschiedlich ausgerichtet waren, nämlich auf auf Farbe im Verhältnis zu Klängen und Science Fiction als quasi-narrativer Grundlage. "Contre-Temps" ist nun ein weiteres musikalisches Tagebuch, gleichwohl es einheitlicher als sein Vorgänger wirkt, als seien die "Einträge" an ein und demselben Ort entstanden.
Darin mag sich Bergers zwischenzeitliches Engagement als Soundtrack-Komponist ("Mala Mala" und mehrere Kurzfilme) widerspiegeln, und dass er sich mit Etienne Daho zusammentat sowie einen Beitrag zu einem Yves-Simon-Tributalbum leistete, dürfte den unentwegt Kreativen zur Verdichtung seines eigenen Stils bewogen haben. Das heißt andererseits nicht, "Contre-Temps" sei völlig gleichförmig.
Die angesprochene Einheitlichkeit ergibt sich aus dem hypnotischen Grundcharakter der Tracks. selbst "off kilter"-Chansons wie 'Rétroglyphes' oder 'Castelmaure' weisen etwas Einlullendes auf, während die beiden langen Stücke, die enthalten sind, wie zu erwarten die Herzstücke von "Contre-Temps" darstellen. Die teils schwebenden, teils stampfenden neun Minuten von '999999999' schneiden die Ästhetik der Berliner Schule an, das Titelstück - ersonnen mithilfe der Pariser Dance-Musikerin Bonnie Banane - versöhnt ein Liedermacher-Narrativ mit kühlem Trip Hop, und mit der vergleichsweise simplen Electro-Lounge-Single 'Brutalisme' gelingt es Berger andererseits, sich u.a. sogar im deutschen Mainstream-Radio zu platzieren.
So changiert der Künstler zwischen gewagten Experimenten und eingängigen Songs (oder Versatzstücken derselben) im traditionellen Sinn. Wer sich einen groben Eindruck verschaffen möchte - einen umfassenden erhält man nur, wenn man die Platte ganz durchhört -, sollte es mit 'À Reculons' versuchen, das Berger mit Julia Lanoë alias Rebeka Warrior vom Electroclash-Act Sexy Sushi zu einem minimalistischen Rave-Treiber gemacht hat.
FAZIT: "Contre-Temps" ist zwar auf geradezu barocke Art überladen, aber just deshalb vielschichtig bis zum Gehtnichtmehr und als zweiter Geniestreich von Flavien Berger ganz einfach ein Referenzwerk für progressive elektronische Musik. <img src="http://vg05.met.vgwort.de/na/ff25424943b44fff87cbddcaec5e7eaa" width="1" height="1" alt="">
Punkte: 12/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 29.09.2018
A+LSO / Pan European
63:51
28.09.2018