„Eskapist“ ist das 2017 erschienene und damit aktuelle Album der Hannover Band THE HIRSCH EFFEKT. Nach Abschluss der rohen und höchstexperimentellen Trilogie „Holon" kam das Album unter dem Label Long Branch Records heraus. Nach Aussagen der Band wurden die Herangehensweisen an das Album geändert, was man an vielen Stellen deutlich heraushört, stellt man sie in einen Kontext zu den vorangegangenen Veröffentlichungen.
Zugleich ist „Eskapist“ eines dieser Alben, die nach dem 25. Durchlauf immer noch neue Überraschungen auf Lager haben und so kann es gut sein, dass ich mir selbst nach wenigen Wochen in manchen Punkten dieser Review widersprechen werde.
Der Beginn ist die erste, bereits im Vorfeld erschienene Single <a href="https://www.youtube.com/watch?v=fqRPBtXZSsE" rel="nofollow">„Lifnej“</a>.
Der Song beginnt mit einem unruhigen, treibenden Riffing und genau diese Unruhe klingt bis zum Refrain auch nicht ab. Direkt am Anfang erahnt man aber schon am Sound, dass „Eskapist“ sich von der Trilogie loszulösen versucht. Der typische rohe Hirsch-Effekt-Sound ist zwar noch erkennbar, wendet sich aber hin zu einem im modernen Metal gewohnten Soundbild. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich die Produktion, wie die meisten modernen Produktionen, auf den Gitarrensound aus dem Hause Kemper verlässt. Was keineswegs heißen soll, dass aus Kemper nur ein Sound kommen kann, aber das nur am Rande. Die unruhige Atmosphäre von „Lifnej" wird am Refrain durch einen klaren Gesang und durchaus gerade Instrumentals gebrochen.
Ähnlich beginnt auch „Xenophotopia“, eine, wie der Name schon sagt, textliche Abrechnung mit Fremdenfeindlichkeit, wo die rhythmische Gemeinsamkeit der Riffs bis zum Break kaum merklich verändert wird. Wenn man den Break-Part unmittelbar nach dem Refrain hört und dabei die Augen schließt, um die Musik wirken zu lassen, könnte man dabei den Alltag des bald darauf singenden Mannes hören, der mit dem Trinklied den Abschluss seines Tages einläutet. Die Melodie der darauffolgenden Flöte wird zunehmend verschwimmender begleitet, bis sie dann kurzzeitig alleine steht. Darauf folgend kommt das Thema in härterer Ausführung. Dieses Thema wird dann noch mit Bläsern untermalt. Den gesamten Teil des Liedes würde ich fast mit dem Adjektiv „episch“ beschreiben. Diese kompositorische Raffinesse ist eines von vielen Dingen, welche dieses Album auch nach mehrmaligem Hören noch ausgesprochen spannend machen.
„Natans“ ist eins der längeren Stücke auf dem Album, das einige Auf und Abs beinhaltet. Sein überwiegend getragenes Klangbild könnte partiell auch an einen Pop-Song erinnern, wobei es anderswo wiederum komplett instrumentale Metal-Stellen aufweist. „Interlude Coda“ leitet dann entspannt zu „Berceuse“ über, sodass beim ersten Hören der Übergang fast gar nicht auffällt.
<a href="https://www.youtube.com/watch?v=3xsBA7UNW0E" rel="nofollow">„Berceuse“</a> setzt sich mit menschlicher Nachlässigkeit auseinander und ist ein überwiegend clean gesungenes Lied, welches mit einem Tambourin im Refrain auch ein für THE HIRSCH EFFEKT ungewohntes Klangbild beinhaltet.
Der kürzeste Song ist auch gleichzeitig der böseste: „Tardigrada“ ist die Kombination eines typisch modernen Metal-Sounds mit einem unfassbar groovigen Refrain.
Mit „Nocturne“ folgt ein dissonantes, verspieltes Interlude, das von Streichern gespielt wird und in „Aldebaran“ überleitet, den Song, den man am ehesten als typisch THE HIRSCH EFFEKT bezeichnen kann. Zwar technisch und etwas wirr, aber in dem Fall wirkt es so, als sei eben diese Art des Songwritings auf dem Album deutlich durchdachter zum Einsatz gekommen.
<a href="https://www.youtube.com/watch?v=UJ_OI40SJJI" rel="nofollow">„Inkushuk“</a> zum Beispiel folgt darauf wieder als ruhiger, synthielastiger Song, der fast eine Pop-Song-Struktur aufweist, enthält er doch neben melodischem Background-Gesang auch Singalongs.
„Autio“ ist das letzte Interlude der Platte. Es wirkt beruhigend und im Kontext des Albums fast wie eine Art Pause, auf die das vorletzte und längste Stück „Lysios“ folgt, dessen Aufbau anfangs ungewohnt erscheint, denn die Rhythmik klingt fast erzwungen starr. Der sich in drei Teile gliedernde Song hat einen Höhepunkt, welcher eigentlich nichts mit Musik zu tun hat: er bringt zum Lachen. Eine Stimme setzt sich hier humorvoll mit Alkoholsucht und Stammtisch-Parolen auseinander, bevor es wieder heftig weiter geht und mit in einem fast an Doom Metal erinnernden Teil endet.
„Acharej“ ist ein dissonantes, ruhiges Outro das auf Synthies und die für das gesamte Album typische Atmosphäre nicht verzichtet und „Eskapist“ in sich schlüssig beendet.
FAZIT: Vergleicht man „Eskapist“ mit der vorangegangenen Trilogie, ist es vielleicht wieder ein Stück mehr THE HIRSCH EFFEKT. Nach dem ersten Hören hätte ich ihm sicher nicht die volle Punktzahl verliehen. Aber: Es ist durchaus abwechslungsreich und technisch, jedoch mit extremeren, technischen, aber auch melodischen, einfachen Stellen. Die experimentelle Ader hat THE HIRSCH EFFEKT keineswegs verloren, sondern nahezu perfektioniert, indem sie die Musikstile jeweils adäquat einsetzen. Während des Schreibens habe ich unbeabsichtigt und ohne, dass das negativ gemeint ist, oft das Wort „ungewohnt“ benutzt und das ist es vielleicht, was dieses Album am treffendsten beschreibt: Ungewohnt!
Dominik Bertsch
Punkte: 15/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 16.06.2018
Ilja John Lappin
Ilja John Lappin, Nils Wittrock, Tim Tautorat, Michael Lettner
Nils Wittrock
Max Trieder
Moritz Schmidt
Connie Trieder (Flöte), Florian Menzel (Trompete), Sebastian Borkowski (Saxophon), Christian Gastl (Saxophon), Robert Hedemann (Posaune)
Long Branch Records
61:08
18.10.2017