Im Großraum Grenoble entstand eine Menge relevanter Musik für die französische Rock- und Metal-Szene, VARSOVIE stammen ebenfalls von dort - "Coups Et Blessures" wurde wie schon früheres Material im Drudenhaus Studio (u.a. Alcest) produziert - und haben ungefähr zur selben Zeit begonnen, als sich ein fürs Land recht charakteristischer Sound herausbildete. Damals einen Tick zu früh mit wavigem Rock am Post-Punk-Rand am Start gewesen, aber Durchhaltevermögen gezeigt, und nun dessen Lohn einheimsen?
Das dritte Album des Duos - Drummer Arnault Destal und und Grégory Cathérina (Gesang, Gitarre) - bietet neben ausschließlich in der Muttersprache der beiden vorgetragenen Texte ausgeklügeltes Songwriting, das das live phon- und spielstarke Projekt am Zenit seiner kompositorischen Fähigkeiten zeigt. Die Gesamtstimmung ist eine fiebrige, durchdrungen von ausgeprägter Melancholie und einer Kühle, die VARSOVIE zu einem "frostigen" Gegenpol ihrer Nachbarn Soror Dolorosa macht.
Dass die beiden eine ausgeprägte Liebe zu Osteuropa und dem dortigen Musikuntergrund hegen, dürfte unter Insidern kein Geheimnis sein, falls man es den Songs und ihrem Klangbild nicht ohnehin anmerkt. Cold Wave lautet das Stichwort, nostalgisch und dennoch frisch neu auf den Punkt gebracht mit dem eindringlichen 'Va Dire À Sparte' oder der urbanen Oase 'Le Lac'. Allen Stücken gemein sind historische Reflexionen vor persönlichem Hintergrund, die eine intime Atmosphäre heraufbeschwören, wobei man nicht weiß, ob man daran teilhaben darf oder nur wie durch ein Schaufenster betrachtet mitvollziehen darf, was die zwei Schöpfer durchleben.
Der Entwicklungsschritt von "L'Heure et la Trajectoire" (2015) zum aktuellen Material war ein kürzerer im Verhältnis zu den damaligen Songs und jenen auf VARSOVIEs Debüt "État Civil/Civil Status" von 2010, aber das liegt in der Natur der Sache; die Schöpfer haben ganz einfach endgültig zueinander gefunden. Auch die Gestaltung bleibt übrigens in der Nachbarschaft - bei Dehn Sora von Throane, der viele Veröffentlichungen des Labels Debemur Morti visuell in Szene setzt.
FAZIT: VARSOVIE (französischer Name Warschaus, eine Hommage an die polnische Indie-Szene der 1980er) stellen sich mit "Coups Et Blessures" endgültig als eines der führenden Post-Punk- bzw. Cold-Wave-Retroprojekte des Undergrounds zur Diskussion. Falls die Promo-Abteilung alles richtig macht, werden aus den vielen potenziellen Szene-Hits der Franzosen tatsächliche, und die emotionale Intensität des Materials würde ihnen Recht geben.
Punkte: 12/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 06.05.2018
Eigenvertrieb
39:43
11.05.2018