Wo nur fängt man bei der Besprechung eines solchen Albums an?
Bei den klassischen Piano-Passagen?
Bei den modern-musikalischen, fast leicht poppig-elektronischen Momenten?
Bei der orchestralen Ausrichtung, den Streichern und Bläsern?
Bei den dynamischen, fast bedrohlichen Stimmungen – oder bei den fragilen, traurigen?
Gut, all das gibt‘s auf „Retronyms“ von CARLOS CIPA zu hören, einem Musiker aus München, der ganz offensichtlich als klassischer Pianist geschult und absoluter Meister seines Instruments ist. Doch – und schon das macht „Retronyms“ zu etwas Besonderem – auf diesem Album spielt er neben dem Piano oder gar präparierten Grand Piano auch eine Reihe anderer Tasteninstrumente, wie Harmonium, <a href="https://www.celesta-schiedmayer.de/unternehmen/celesta-video/" target="_blank" rel="nofollow">Celesta</a> (ein Idiophon, einem kleinen Flügel ähnlich, bei dem Stahlplatten mit filzbezogenen Hämmern über eine Klaviatur angeschlagen werden), analoge Synthesizer und Keyboards (Wurlitzer, Fender Rhodes usw.).
Eigentlich fehlt zum gänzlichen Tasten-Glück nur noch eine schöne alte Hammond Orgel, die leider nicht auf diesem Album zu entdecken ist. Aber das wäre wohl einfach auch zu viel des Guten gewesen, für einen Pianisten, der auf seinen beide ersten Alben aus den Jahren 2012 und 2014 sich fast ausschließlich auf das Piano beschränkte. Womit sich auch der Titel des Albums erklärt. Retronyme sind Bezeichnungen, die einem alten Begriff aufgrund der danach erfolgten kulturellen und/oder technologischen Entwicklung einen neuen Begriff hinzufügen. Genau das macht auch Cipa auf „Retronyms“. Er fügt seinem klassischen Piano-Spiel eine Vielzahl moderner und orchestraler Neuerungen hinzu, die nicht nur in der Vielfalt der Tasteninstrumente, sondern auch durch Streicher, Bläser und Electronics zum Ausdruck kommen. Eine faszinierende Entwicklung und damit auch für all diejenigen interessant, die mit Solo-Piano-Platten nicht viel anfangen können, auch wenn sie sich gerne klassischen und jazzigen Strömungen öffnen und genießen können. Die haben mit „Retronyms“ garantiert einen liebevollen und passenden Begleiter gefunden.
Denn hier darf man bei <a href="https://www.youtube.com/watch?v=Q7kz-XO29t4" target="_blank" rel="nofollow">„And She Was“</a> zum klassischen Piano träumen oder bei <a href="https://www.youtube.com/watch?v=4pOuj50u8_g" target="_blank" rel="nofollow">„Dark Tree“</a> unter besagtem dunklen Baum nach elektronischen und akustischen Tasten- sowie Bläser- und Streicher-Klängen trauern. Ja, und mit <a href="https://www.youtube.com/watch?v=Hg8V3LJg4ms" target="_blank" rel="nofollow">„Senna‘s Joy“</a> ein fast viertelstündiges, episches, progressives Werk aus den unterschiedlichsten Stilarten genießen.
Außerdem gibt es da noch etwas, das die pianistische Größe von CARLOS CIPA und zugleich die Intensität der Wirkung dieses Albums ausmachen. Cipas Verdienst liegt auch darin, dass er der ELBPHILHARMONY den „Six Pianos“ von STEVE REICH neues Leben einhauchte. Er ist also einer, der zugleich in einem Atemzug mit solchen Ausnahmetalenten wie TERRY RILEY oder PHILIP GLASS und ganz speziell MICHAEL NYMAN, wenn der an die Vertonung seiner Filmmusiken für PETER GREENWAY heranging, genannt werden muss. Zugleich aber bietet er auf „Retronyms“ auch genau die Art von Musik für Kunstkenner und -Freunde, die von den klassischen Ideen eines KEITH JARRETT oder LUDOVICO EINAUDI oder YANN TIERSEN nicht genug bekommen können.
Die wahren Klassiker und Nostalgiker, die wissen, wie und wo man solche Musik genießt – in einem abgedunkelten Raum, bei einem guten Glas Wein und von einer Stereoanlage, die zum Genießen einlädt, wenn man eine LP auf seinen Plattenspieler legt und schon diese Tätigkeit wie ein Ritual zelebriert – die sollten natürlich „Retronyms“ als LP besitzen, denn sie bekommen neben dem besonders warmen und tieftönenden Audio-Klang vom 180g-Vinyl noch ein achtseitiges LP-großes Begleitheft mit ausführlich Bemerkungen zum Album von Kristoffer Patrick Cornils und kunstvollen Fotos der zum Einsatz kommenden Instrumente mit dazu. Es ist eben auch immer die Liebe zum Detail und der Musik, die gewisse Alben so außergewöhnlich machen.
CARLOS CIPA schafft Musik für die Filme, die in unserem Kopf ablaufen, wenn uns etwas bewegt oder beschäftigt bzw. nicht loslässt. Er ist ein klassischer Musiker, der mit seinem Album einen echten Klassiker vollendet und dabei trotzdem auch intensiv auf die Moderne setzt! FAZIT und aus!
Punkte: 14/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 28.08.2019
Dieter Dolezel
Carlos Cipa, Martin Brugger
Christopher Mann (Posaunen, Euphonium), Sina Herbst (Klarinetten), Matthias Lindermayr (Trompete), Teresa Allgaier (Violine), Sebastian Selke (Violoncello)
Warner Classics
49:15
23.08.2019