Weder der deutsche Saxofonist Daniel Erdmann ist Deutscher, noch der dänische Gitarrist Hasse Poulsen oder der französische Schlagzeuger Edward Perraud hat im Alleingang bisher auf so breiter Ebene von sich reden gemacht wie ihr gemeinsames Projekt DAS KAPITAL, in dem sie ihren Freiform-Jazz-Fetisch und ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein miteinander verbinden. "Vive La France" markiert ihre sechste Kollaboration und steht erneut im Zeichen jenes im Grunde naheliegenden Dualismus, denn die Szene-Avantgarde äußert sich von jeher, auf jeden Fall bereits seit den 1960ern, zu politischen und gesellschaftlichen Fragen, wie sie eben auch dieses Album erörtert.
Anders als vielleicht erwartet geht es auf "Vive La France" jedoch nicht etwa um Monsieur Macrons Regierungsführung oder ähnliches; stattdessen bezieht sich der Titel auf das musikalische Erbe des Landes, dem DAS KAPITAL in Form eines Dutzends sehr unterschiedlicher Stücke Tribut zollen - wenn auch mit ständigem Augenzwinkern; Patriotismus, wie ihn die Phrase suggeriert, dürfte sowohl dem Drummer als Einheimischen als auch seinen beiden Mitstreitern fernliegen.
Die preisgekrönte Combo stellt so ziemlich alles auf den Kopf, was sie sich vornimmt, angefangen bei Patrick Hernandez' Pop-Hit 'Born To Be Alive' über den Schmachtfetzen 'Le Temps Ne Fait Rien À L'Affaire' von Georges Brassens und 'Ne Me Quitte Pas' von dessen Chanson-Kolleg(inn)en Jacques Brel sowie 'Ma Plus Belle Histoire D'Amour' von Barbara Brodi. Das bekannteste Stück, das sich DAS KAPITAL vorgeknöpft haben, dürfte 'Comme D'Habitude' sein ein Chanson von Claude François, Jacques Revaux und Gilles Thibault dessen Bearbeitung durch Paul Anka ('My Way') Frank Sinatra zu Weltruhm verhalf. Durch die bis zuletzt ungebrochene Experimentierfreude werden die Kompositionen zu respektvollen Persiflagen, stets kompakten Abstraktionen des jeweiligen musikalischen und inhaltlichen Kerns.
Bei (teil-)orchestraler Musik wird insbesondere letzteres knifflig, doch auf "Vive La France" gelingt es ebenfalls. Die klassische Musik Frankreichs lässt das Trio über die beiden Impressionisten Erik Satie ('Gymnopédie #1') und Claude Debussy ('La Mer') anklingen, nicht zu vergessen Jean-Baptiste Lullys martialisches 'Marche Pour La Cérémonie De Turcs', Maurice Ravels feudale 'Pavane Pour Une Infante Défunte' und Georges Bizets 'L'Arlésienne'. Müßig zu erwähnen, …
FAZIT: … dass DAS KAPITAL das Material nahezu völlig im Jazz-Sinn dekonstrukieren, wohlgemerkt ohne ihm und seinen Urhebern die Würde zu nehmen. "Vive La France" ist eine liebenswürdige Hommage an Frankreich der ganz anderen Art. <img src="http://vg09.met.vgwort.de/na/dd6bc34ce5624f119ef0303461898e00" width="1" height="1" alt="">
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 05.05.2019
Bleu / Broken Silence
56:35
10.05.2019