Ihr drittes KScope-Album verstehen IAMTHEMORNING als Liederzyklus nach den Mustern der Romantik im 19. Jahrhundert im Geist von Franz Schubert. Thematisch wiederum wird das Material von mehreren Motiven geklammert. Es geht um menschliche Grausamkeit und dadurch verursachtes Leid, unseren Umgang damit und die Konsequenzen für die Gesellschaft als Ganzes, wobei Sängerin Marjana Semkina den Blick jedoch nach innen richtet, damit die Deutung jeweils subjektiv offen bleibt. Die Ästhetik ist passenderweise dem viktorianischen England entlehnt, um darauf zu verweisen, dass wir im Grunde nicht aus unseren Fehlern lernen. Mit den enthaltenen Tracks erzählt das Duo zehn voneinander unabhängige Geschichten unter vertrauten stilistischen Vorzeichen, denn angesichts seines seit je einzigartigen Sounds wäre es Duo töricht, einschneidende Änderungen vorzunehmen oder sich sogar diesem oder jenem Zeitgeist anzubiedern.
Das heißt allerdings nicht, dass die Russen nur mehr vom selben Alten bieten würden. "The Bell" ist ein durchaus mutiges Album, wenn man das zugrundeliegende Konzept bedenkt, und erzeugt bereits rein musikalisch genug Spannung, um IAMTHEMORNINGs anhaltende Relevanz im weiteren Artrock-Kontext zu untermauern. Für die junge Dame, die als Aushängeschild des Projekts fungiert, ist 'Freak Show' mit Harfe und Streichern ein ungewohnt dringlicher Einstieg, woraus sich ausgewachsener Bombast Rock mit wuchtigem Schlagzeug entwickelt, ohne dass sich Gleb Kolyadin am Klavier die Führung nehmen ließe.
Der ausgebildete Komponist führt in seinen neuen Songs konsequent fort, was er im vergangenen Jahr auf seinem Solo-Debüt demonstrierte - einen Crossover aus Klassik, Jazz und Rock mit den Atem raubender Dynamik, vor allem in Sachen Lautstärke. Auch wenn "The Bell" in seinem Zentrum zu ruhen scheint (die gedämpften Tracks 'Sleeping Beauty' und 'Black And Blue' tendieren ebenso wie die intime, schon von "Ocean Sounds" als Demo-Version bekannte Ballade 'Blue Sea' vage gen Kammermusik), ist es das bis dato intensivste IAMTHEMORNING-Werk.
Dicke Ausrufezeichen hinter dieses Statement setzen speziell 'Salute', das längste Stücke kurz vor Schluss, und der malerische Kunst-Pop 'Ghost Of A Story'. Das naiv versponnene 'Six Feet' hat hingegen in der Tat etwas Narratives in Hinblick auf das übergreifende Konzept, weist aber auch Eigenschaften eines Schlaflieds aus, obzwar IAMTHEMORNING freilich weder hier noch andernorts einlullen. Selbst der minimalistisch gestrickte 'Song Of Psyche', der auf sachte gezupfter Akustikgitarre beruht, wühlt auf und bestätigt Marjana endgültig als stimmstarke Sympathieträgerin, wohingegen Gleb als nahezu beispielloser Visionär auf seinem Feld stehenbleibt.
FAZIT: "The Bell" erschlägt zwar zunächst auch trotz der relativ stillen Mehrheit der enthaltenen Stücke, stellt sich aber schlussendlich als denkbar gelungenste Vereinbarung höchster Ansprüche mit für die Masse verträglichen Melodien heraus, die man sich als Musiker wie Hörer wünschen kann. Zählt die Tage bis zu IAMTHEMORNINGs Konzerten im Herbst 2019 … <img src="http://vg09.met.vgwort.de/na/1a7209aa3c944b229c648a027658e3a9" width="1" height="1" alt="">
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 26.07.2019
KScope / Edel
55:29
02.08.2019