Wo eigentlich wollen JAARI aus musikalischer Sicht hin?
Das ist die Frage, die sich unmittelbar nach dem Hören der noch nicht einmal 40 Minuten von „The Full Range“ des Berliner Trios als erste stellt, denn die wilden Musik-Wechselspiele auf dem Album mit dem schwarz-quadratischen Loch auf dem Cover-Mittelpunkt (Das hier eingebundene Cover-Bild gehört zur streng auf 100 Exemplare limitierten Vinyl-Ausgabe!) sind haarsträubend.
Oder wie‘s die drei Jungs selber zu beschreiben versuchen: „JAARI, das sind Gitarre, Bass, Drums und dreimal Gesänge bzw. Geschreie, je nach Betrachter. An den Schnittmengen zwischen Indierock, Grunge, Wave, Punk und Postrock agierend, ballern JAARI mit ‚The Full Range‘ alles raus, was es für ein Debütalbum braucht.“
So wird der Albumtitel – mal frei als „Die volle Breitseite“ übersetzt – zum kurzweiligen, aber überzeugenden Programm, das neben echten Höhen, wobei ganz besonders als Album-Highlight der Post Rock allererster MOGWAI-Güteklasse, samt Trompete und Saxofon, auf <a href="https://www.youtube.com/watch?v=hTpWm0NO6mo" target="_blank" rel="nofollow">„Martha“</a> hervorgehoben werden muss. Hier reicht zwei- oder höchstens dreimaliges Hören, um von diesen Wall Of Sounds erst gefangengenommen und danach süchtig zu werden.
Einige weitere Stücke bedürfen diesbezüglich schon deutlich mehr Durchgänge.
So erinnert der Album-Opener „Herbert (sung by Michael Stipe)“, der nicht umsonst in seinem Titel den Bezug zum Sänger von R.E.M. herstellt, tatsächlich an die ersten R.E.M.-Alben, als die später so erfolgreichen Amis noch nach einer musikalischen Verortung zwischen Indie-Rock und Punk suchten.
Andere Stücke, wie „Käpt‘n Missgunst“, zünden dagegen nicht so richtig, auch weil man bei diesem seltsamen, diesmal gar deutschen Schreigesang, kaum ein Wort versteht.
Das Musikhaus, welches JAARI auf „The Full Range“ bauen, hat viele Türen. Da geben sich TOOL und SONIC YOUTH genauso die Musik-Klinke in die Hand wie MOTORPSYCHO oder DEFTONES, aber auch Britpop-verdächtige Melodien oder hymnische Rhythmen schleichen sich ein, die von dreckigen Krachmonstern zerschreddert werden. Dazu kommen die expressionistisch anmutenden Texte über Verlustängste, gestörte Beziehungen, verlorene Geschwister und seltsame Touristen sowie andere nicht alltägliche Alltäglichkeiten, die einen zum Zuhören zwingen, selbst wenn man manchmal lieber weghören möchte, wenn‘s beispielsweise in „Käpt‘n Missgunst“ heißt: „Manchmal kotzt es mich an. Gefangen in der virtuellen Schleife, die sich jeden Tag öffnet.“
Wow, ein mutiger Ansatz, doch dann: „Danke Zuckerberg!“
Pah, da hat also der facebook-Macher wieder mehr schuld als man selbst. Erst hauen wir unsere Daten und abstrusen Meinungen in die virtuelle Welt hinaus, die verdammt real ist, und dann geben wir dem die Schuld, der diese Scheiß-Welt geschaffen hat. Dabei lag es ausschließlich und nur bei uns selbst, ob wir diese Welt betreten (und genauso, wann wir sie wieder verlassen). Oder?
Dann aber macht einen ein Satz und ein zweiter sowie ein letztes Wort wie: „Bukowski told me the truth. Now I understand. Finally.“, wieder glücklich und entschädigt sofort für die manchmal etwas engstirnigen Denkweisen. Überhaupt scheinen JAARI den großartigen Bukowski, dessen Lesungen von jedem Whiskey, den er dabei trank, immer unberechenbarer und spannender, genauso wie seine Gedichte, wurden, sehr zu verehren, denn er taucht nicht nur einmal auf JAARIs Album auf und scheint sie selber stark bei ihrer eigenen Lyrik inspiriert zu haben und den Filmen, die da in „Twin Peaks“-Manier in ihrem Musiker-Kopf ablaufen: „Like a perfect movie story filmed by David Lynch and written down by Charles Bukowski.“
Den textlichen Höhepunkt aber erreichen JAARI, wenn sie im punkigen „You Lost Your Job (Hiob 10, 8-15)“ Gott erklären, dass er seinen Job losgeworden ist, weil er den auf Erden einfach zu beschissen ausgeführt hat. Herrlich!!!
Noch ein kleiner Hinweis an diejenigen unter uns, die noch DDR-sozialisiert sind und auch die Vielzahl großartiger Bands interessant fanden, welche sich gerade in den Umsturzzeiten (Wehe, es benutzt wer das Wort „Wende“!) bildeten und sich als „die anderen bands“ bezeichneten, weil sie eine musikalisch-punkig-experimentelle Gegenbewegung schufen. Genau an diese Zeiten und „anderen bands“ fühlt man sich beim Hören von JAARI erinnert, besonders an DEKAdance. Und das adelt die drei Berliner Jungs wiederum, auch wenn sie noch nicht ganz so professionell wie die hier vielfach als Vergleichsgrößen benannten Bands klingen, so sorgen sie auf jeden Fall für einen verdammt frischen Wind in der deutschen Musik-Szene!
FAZIT: Im Frühjahr 2016 gründete sich JAARI in Berlin und verblüffen nach drei EP‘s auf ihrem ersten Longplayer „The Full Range“ mit einem wilden musikalischen Stilmix der ungewöhnlichen Art aus Indie-, Punk-, Post-, Noise-, Wave- und Sonstwas-Rock mit größtenteils englischen Texten, die es ähnlich in sich haben wie ein Gedicht von Charles Bukowski, den JAARI mehrfach besingen. Und alle LP-Nostalgiker sollten unbedingt bei der auf 100 Exemplare limitierten, über Crowdfunding finanzierten LP zugreifen!
Punkte: 11/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 04.07.2019
Robert Goldbach, Patrick Bäthge
Patrick Bäthge, Robert Goldbach, Maik Bzdziuch, Katharina Rauch
Patrick Bäthge, Robert Goldbach
Maik Bzdziuch
Paul Griebach (Saxofone), Paul Kuchenbuch (Trompete)
Eigenvertrieb
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07.06.2019