Ein erster Blick auf das „Fables And Fairytales“-Cover von KARAKORUM zeigt uns eine Schildkröte auf blauem Grund. Wer sich mit Oberflächlichkeiten abtut, der belässt es weiterhin dabei, hört sich auf keinen Fall dieses märchenhaft-fabelhafte Album an und schaltet wie gewohnt sein heiß geliebtes Radio ein.
Wer lieber in die Tiefe geht oder zwischen den Zeilen liest und das Radio mit seiner fremdbestimmten Pop-Kacke nicht ausstehen kann, der werfe nicht nur ein weiteres Auge und zugleich intensiven Blick sowie zwei riesige Ohren auf „Fables And Fairytales“, sondern höre sich die Musik dahinter an. Demjenigen wird ein musikalisches Erweckungserlebnis beschert, das sich hinter all den Symbolen, zwischen Yin & Yang, religiösen Zeichen und phallusähnlichen Kunstwerken verbirgt, welche die Schildkröte auf ihrem Panzer trägt.
Krautrock, aus der Zeit gefallen und anno 2019 mindestens genauso schön wie in den frühen Siebzigern. Ja, genau das verbirgt sich hinter dem märchenhaften Album der fabelhaften Band aus Bayern.
Mit einer 70er-Heavy-Nummer der Marke BIRTH CONTROL und IRON BUTTERFLY oder ganz besonders URIAH HEEP, allerdings nicht diejenigen, welche gerade ihre Frau in Schwarz anhimmeln, sondern sich im „July“ auf die lange Musik-Reise nach „Salisbury“ begeben, begegnen uns auf „Phrygian Youth“. Ein grandioser Einstieg in ein Album, das sich von einem zum nächsten überraschenden Höhepunkt steigert.
So geht es auf „Smegmahood“ ab in Richtung GENTLE GIANT, musikalisch wie dissonant satzgesanglich. Doch nur am Anfang, denn jetzt beginnt erst die wilde Achterbahnfahrt durch die verrücktesten Musikstile, vom Free Jazz bis BOB DYLAN-Blues – wegen der Mundharmonika natürlich – plus Tröten, Fahrradhupen, archaischen Schreien, GONG-Affinitäten, MAGMAtischen ZAPPAismen und komplexen KING CRIMSON-Ausflügen, die einen schlicht beim Hören vom Hocker hauen, vorausgesetzt man sitzt gerade auf einem.
Noch dazu kommt die extrem inhaltliche Verrücktheit des Songs, in dem es darum geht, dass sich eine Laktose-intolerante Maus von dem Smegma seines auserkorenen Homo Sapiens ernährt, um daran im Endeffekt zu krepieren. Vielleicht weiß nicht jeder, dass man unter Smegma die hellgelbe Keim-Substanz, beim Mann aus Sperma- und Urinrückständen zwischen Vorhaut und Eichel sowie bei der Frau aus Talgdrüsensekret zwischen den inneren und äußeren Schamlippen bestehend, versteht. Schlechte Sexual-Hygiene, die zwar nicht für den Menschen, aber die lieben Tiere tödlich ist. In dem Falle wäre es noch konsequenter von KARAKORUM gewesen, nicht einen Nager, sondern einen Vogel, getreu dem Motto: „Schmutziges Vögeln kann bei Vögeln tödlich sein!“, mit dem Smegma in die ewigen Jagdgründe zu schicken.
„Smegmahood“ ist jedenfalls rundum ein episches Meisterwerk für die Ewigkeit. Und Punkt!
Mit weltmusikalischem Flair und sphärischen Gesängen, die sich irgendwo im Kräutergarten von AMON DÜÜL und POPOL VUH sowie bei SANTANA und ZAPPA sehr wohl fühlen, geht es dann auf die 23minutige Musik-Reise über eine ganze LP-Seite, wobei hier unbedingt bemerkt werden muss, dass jeder LP-Vintage-Freund unbedingt auf die LP im Gatefold-Cover (samt DL-Code) zurückgreifen sollte, die noch dazu durch ihr kristallklares 180g-Vinyl zu begeistern versteht und von EROC soundtechnisch meisterhaft gemastert wurde.
Auch kann man darauf in ihrer ganzen Schönheit und Größe die kryptischen Zeichnungen auf dem Schildkröten-Panzer und dem blauen Hintergrund bewundern, auf dem – wie wir nun wissen – nicht ohne Grund besonders im Inneren der aufgeklappten LP das Phallus-Symbol – zu gut Deutsch das männliche Glied, der Penis, der Pimmel, der Luststab (Sucht euch einfach den für euch angenehmsten Begriff aus!) erscheint. Und natürlich kommt einem dann auch gleich eine weitere musikalische Parallele, ausgelöst durch diese Bilder, in den Sinn: „Phallus Dei“ (der göttliche Penis), das erste AMON DÜÜL-Album aus dem Jahr 1969!
Diese Abwechslung und verwirrenden Richtungswechsel – vom Tonzonen-Label schlicht auf dem LP-Aufkleber als „Progressive Neo-Krautrock“ tituliert – haben fast einen neuen musikalischen Kunstbegriff verdient: nennen wir ihn einfach mal expressionistischen Kraut-Prog-Dadaismus, in dem ein Benn auf einen Zappa und ein Hugo Ball auf die Siebziger Heavy-Metal-Monster-Sounds trifft, um mit Hans Arp den zarten Riesen des zeitgenössischen Prog-Rocks ein Denkmal zu setzen, das zwar viel zu klein ausfällt, dafür aber beim besten Willen nicht unbeachtet bleiben darf. Es orgelt und gongt, es experimentiert und fusioniert, es sinniert und verliert sich an allen Ecken und Kanten, von denen es jede Menge gibt – doch trotzdem bleibt die Musik auf „Fables And Fairytales” im Fluss – vom stürmischen Ozean hinein in den Stillen und über den Nil in Richtung Totes Meer zurück, um völlig lebendig den Fluten zu entsteigen und sich ins nächste Abenteuer zu stürzen.
KARAKORUM haben das musikalische Ruder dabei fest im Griff und setzen die Segel immer gegen den progressiven Wind, ohne sich dabei auf eine massenkompatible Brise einzulassen.
So bleibt nur ein FAZIT zu „Fables And Fairytales“ von KARAKORUM übrig: Für Freunde guter Musik ist diese Platte ein Märchen mit gutem Ausgang. Für Freunde des Mainstreams dagegen hat das Rotkäppchen von KARAKORUM schon nach dem ersten gepflückten Kräuterchen nicht die geringste Chance. Doch die sollen gerne weiterhin mit ihrer Fast-Food-Musik glücklich werden, während sich die Neugierigen garantiert an dem Neo-Prog-Psyche-Heavy-Krautrock von „Fables And Fairytales“ berauschen werden.
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 13.06.2019
Jonas Kollenda
Axel Hackner, Max Schörghuber, Bernie Huber, Jonas Kollenda, Bastian Schuhbeck
Max Schörghuber, Bernie Huber
Bastian Schuhbeck
Bernie Huber (Harfe)
Tonzonen Records
46:29
24.05.2019