Ein kleines, feines und verdammt progressives Rockschätzchen aus den Mittsiebzigern hat da das rührige Nostalgie-Label Sireena Records mal wieder ans Tageslicht befördert, das nicht nur vom optischen, sondern auch akustischen Blickwinkel her in seiner direkt von den Originalbändern auf 180 Gramm Vinyl gemasterten Ausgabe ein echtes Goldstück geworden ist. Natürlich nur echt auf tiefschwarzen Vinyl-Gold hinter kunstvoll gestaltetem Schwarz-Weiß-Cover!
Da kommen doch beim Kritiker gleich ein paar Erinnerungen auf an einen krautrockigen West-Sampler, den er für die horrende Summe von 100 Ostmark kaufte und der heute echter Kult ist. Er stammt aus dem Hause Govi, das regelmäßig unter dem Titel „German Rock Szene“ Zusammenstellungen herausbrachte, die sich größtenteils mit dem, wie sie es nannten, „Progressiven Pop“ beschäftigte. Auf dem „Vol. IV“ (1979) jedenfalls befanden sich neben UDO LINDENBERG (Deswegen wurde der Sampler damals auch gekauft!) und ULLA MEINECKE auch NOVALIS, MICHAEL ROTHER, AMON DÜÜL II und andere Bands, von denen eine eben auch OCTOPUS hieß.
Schön an dieser LP war auch, dass jede Band auf der LP-Rückseite mit einem kurzen Text vorgestellt wurde. Also, die LP vorgekramt und gelesen, was da zu OCTOPUS stand, denn die Beschreibung ist wirklich aussagekräftig und bringt den Progressive Rock der Frankfurter Band gelungen auf den Punkt. Immerhin stammt er auch aus der „Frankfurter Rundschau“ und wurde von W. Liefland verfasst: „OCTOPUS-Musik ist konzertante Rockmusik, vielschichtige Rhythmik und Melodik, spannungsgeladen arrangiert. Sängerin Jennifer Hensel gibt sich ausdrucksstark wie nie: ‚Der volle Alt der Rock-Lady, der kraftvoll zupackt und sich gleich wieder in vibratoloses Sehnen einer Folkstimme verwandelt. OCTOPUS fällt den Gegebenheiten mit trauervoller Poesie, mit Ehrlichkeit und Heavy-Rock und manchmal auch klangexperimentell ins Wort.‘“
Später jedenfalls wurden auch die Teile III und VI mit angeschafft, auf denen sich ebenfalls jeweils ein OCTOPUS-Song befand, auch „The First Flight Of The Owl“ (auf Vol. III aus dem Jahr 1977), der dieses durch Sireena neu aufgelegte OCTOPUS-Debüt eröffnet und den Vermerk erhält: „Wichtig bei OCTOPUS ist der musikalische Überraschungseffekt, der dadurch entsteht, dass nach beruhigendem Gesang unvermutet die gesamte Band unter vollem Einsatz harte Rockmusik bietet und dabei so viele Elemente und Ideen verarbeitet, dass die Musik auf keinen Fall langweilig wird.“
Allerdings ist die etwas übertriebene Fixierung auf die Sängerin nicht wirklich richtungsweisend – und Vergleiche, die später sogar in Richtung JANIS JOPLIN gingen, unpassend. Die Komplexität der Musik ist die Stärke bei OCTOPUS, die einerseits Vergleiche zu NOVALIS, andererseits zu JANE und NEKTAR zulässt.
Mitte des Jahres 1973 entstanden OCTOPUS mit dem Wunsch, die progressive Welt Deutschlands um ein weiteres Krautrock-Ereignis zu bereichern, das auf, der internationalen Anerkennung wegen, englische Texte und eine auffällige Sängerin sowie symphonischen Rock setzte, der Hymnisches und Metallisches vereinte und mit Rickenbacker-Bass-Einlagen, Moog- und Mellotron-Soli, langen Instrumentalpassagen und Chorgesängen sowie so einige schräge, fast jazzige Takte aufwartete.
Bei OCTOPUS musste musikalisch viel passieren, denn nur das ist wirklich progressiv, zugleich aber auch aufwendig und kostenintensiv, was dazu führte, dass der erste Versuch, ein Album aufzunehmen, aus finanziellen Gründen scheiterte. Mehr Mut zur Musik und eigenes Geld aus Bandkreisen ließ den Wunsch dann doch wahr werden und „The Boat Of Thoughts“ konnte endlich ablegen. Der große Durchbruch gelang leider auch unter diesen Bedingungen nicht.
Wenn wir allerdings heute dieses Album in der Hand halten und unsere Ohren genussvoll diese komplexe Klangwelt aus dem Boot der Gedanken einsaugen, dann fragt man sich wirklich, warum OCTOPUS der große Erfolg verwehrt blieb. Jedenfalls dürfen jetzt alle Freunde von NEKTAR, JANE und frühe GROBSCHNITT oder NOVALIS bis hin zu BIRTH CONTROL ein weiteres Prog-Rock-Album – und eigentlich kleines Kult-Werk – made in Germany ihrer liebevoll zusammengestellten Sammlung hinzufügen. Nicht nur für Sammler, sondern auch alle progressiven Musik-Freigeister, eine echt lohnenswerte Anschaffung!
FAZIT: Progressive Vinyl-Junkies mit Hang zum deutschen Krautrock mit englischen Texten und einer scharfen progressiven Kombination aus härter rockenden Momenten, die unerlässlich einer musikalischen Geburtenkontrolle zugeführt werden mussten, oder lyrisch-hymnischen Ausflügen, die den literarischen Erfinder der „Blauen Blume“ (Novalis) priesen, während eine gewisse JANE ihre grobschnittigen Haare kämmte, aufgepasst. Hier singt nicht die Loreley, aber eine Sängerin, die vom Wasser aus auf dem OCTOPUS eine großartige Variante der Mittsiebziger Prog-Kultur zu wahrer Höhe verhilft. Auch wenn diese viel zu lange übersehen wurde und leider viel zu schnell unterging – trotzdem ein echter Klassiker, der endlich die ihm gebührende Aufmerksamkeit erhält.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 20.08.2019
Claus D. Kniemeyer
Jennifer Hensel
Pit Hensel
Werner Littau
Frank Eule
Sireena Records/Broken Silence
35:29
16.08.2019