Man braucht Tarja Turunen wirklich nicht mehr die ehemalige Nightwish-Sängerin zu nennen, denn die Finnin bringt mit "In The Raw" nicht nur schon ihr siebtes Soloalbum heraus, sondern hat sich künstlerisch schon vor Jahren von ihrer ersten Combo befreit - ganz davon abgesehen, dass ihre Karriere im Alleingang mittlerweile länger währt, als sie gemeinsam mit Tuomas Holopainen musizierte. Das ändert allerdings nichts an der krampfhaften Weise, auf die sie versucht, sich 2019 neu zu erfinden - denn ihe aktuellen Lieder sollen inklusive besonders persönlicher Texte im Zeichen emotiionaler Nacktheit und unverfälschter Gefühle stehen.
Solche Ambitionen wirken für eine Musikerin, die von jeher bis zu einem gewissen Grad eine Kunstfigur gewesen ist, ziemlich hoch oder sogar vermessen, und tatsächlich markiert "In The Raw" auch gar keinen drastischen Bruch, sondern entspricht den härteren Werken in Tarjas Diskografie, während man die inhaltliche Komponente zur Kenntnis nehmen kann, aber nicht muss, um Gefallen an der Platte zu finden. Einmal mehr betten die Macher im Hintergrund die Ideen der Diva in ausgefeilte orchestrale Arrangements, die mit stylischen Rock-Elementen verziert werden, alldieweil die Stimme - wie sollte es anders sein? - im Zentrum aller Tracks steht.
Die einzige Überraschung wird gleich zu Beginn vorweggenommen, denn im Verlauf der Vorab-Single 'Dead Promises' droht nicht etwa Gastsänger Björn “Speed” Strid (Soilwork), der Hauptattraktion die Show zu stehlen, sondern das derbe Gitarrenbrett, auf dem die Nummer beruht. Ansonsten handelt es sich hierbei um einen Hit auf Ansage, dem das folgende 'Goodbye Stranger', vorgetragen zusammen mit Lacuna Coils Cristina Scabbia, in nichts nachsteht; das Stück hat mit seinem Swing-Groove sogar die Nase vorn.
Das leichtfüßige 'Tears In Rain' un der Stampfer 'Serene' sind Hymnen fürs Radio, die ungeachtet ihrer harten Riffs niemandem wehtun, und im Grunde typisch für die Künstlerin. Mit dem dreigeteilten 'The Golden Chamber' hat sich eine Gurke eingeschlichen, mit der die Komponisten einen filmmusikalischen Versuch begehen und scheitern, denn das Ding ist schlicht viel Geräusch für nichts. 'Silent Masquerade' stellt sich als recht traditionelles Liebesduett zwischen Männlein (Tommy Karevik) und Weiblein heraus, zieht jedoch gegenüber der anderen Power-Ballade 'Railroads' den Kürzeren, in der Tarja allein ihre Qualitäten als Sopran hervorhebt.
Das intime Klavierstück 'You And I' zeigt die Sängerin hingegen so ausdrucksvoll wie selten zuvor in mittlerer, natürlicher Tonlage und erweist sich als stilles Highlight eines im Guten wie Schlechten typischen Tarja-Albums.
FAZIT: Drei Jahre nach “The Shadow Self” geht Tarja Turunen weitgehend auf Nummer sicher, denn “In The Raw“ bietet abgesehen von ein paar halbwegs neuen Impulsen bewährte Koste. Vielleicht sollte sie nicht mehr auf ihre längst souverän aufeinander eingespielte, mehr oder weniger feste Band und Produzenten bzw. Songwriter zurückgreifen, sondern in Zukunft etwas mehr Mut zur Innovation beweisen, denn an Talent und Ausdruckskraft mangelt es ihr sicherlich nicht. Andererseits gibt ihr der Erfolg recht, wie es so unschön heißt. <img src="http://vg01.met.vgwort.de/na/5b0e9327b52242e4bfbcc5e3cb26b413" width="1" height="1" alt="">
Punkte: 10/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 28.08.2019
earMusic / Edel
57:06
30.08.2019