Gerade erst wählte die britische Onlineausgabe des NME „A Brief Inquiry Into Online Relationships“ von THE 1975 <a href="https://www.nme.com/blogs/nme-blogs/best-greatest-albums-of-the-year-2018-2419656" target="_blank" rel="nofollow">zum besten Album des Jahres</a> und wagte gar den Vergleich mit „OK Computer“ von RADIOHEAD.
Dann muss dieses Album doch eine echte Faszination ausüben?
Muss es?
Hier kann man durchaus geteilter Meinung sein!
Und selbst wenn das erste Album der Briten blitzartig den 1. Rang der britischen Charts eroberte, ist das nicht immer gleich der Beweis allerhöchster Musik-Qualität.
Eins jedenfalls ist klar: RADIOHEAD und THE 1975 halten keinem Vergleich stand, denn RADIOHEAD schufen mit „OK Computer“ ein einzigartiges Album, während THE 1975 mit ihrem dritten, so hoch gelobten Album eher eine Scheibe zustande brachten, die auf ungewohnt beeindruckende Weise jede Menge Erinnerungen an die anspruchsvolle Pop- und Rock-Musik der 80er-Jahre weckt, egal ob dabei TEARS FOR FEARS („It‘s Not Living (If It‘s Not With You)“), DEPECHE MODE („Inside Your Mind“), MICHAEL JACKSON (<a href="https://www.youtube.com/watch?v=1K93ioXL63c" target="_blank" rel="nofollow">„Sincerity Is Scary“</a>) oder SPANDAU BALLET („I Always Wanna Die (Sometime)“) ins Spiel kommen.
So leitet uns auch der Bandname in die Irre, denn nach dem Jahr 1975 klingen die Jungs überhaupt nicht, auch wenn die eine oder andere Ballade ein wenig den Singer/Songwriter-Horizont von DONOVAN oder SIMON & GARFUNKEL ankratzt.
„A Brief Inquiry Into Online Relationships“ ist in erster Linie eine Pop-Wundertüte und noch vieles mehr, denn fast jeder Song entwickelt sein Eigenleben und einige Songs haben ihren völlig eigenständigen Reiz, während es aber auch mit „TooTimeTooTimeTooTime“ völlig belanglosen Wummer-Pop aus der Dose gibt. Auch das permanente Verfremden und Verhallen des Gesangs wirkt mitunter übertrieben und unnötig aufgeblasen, selbst wenn er zu Beginn des Albums mit „The 1975“ perfekt umgesetzt wird und allerhöchste – auch klangtechnische – Erwartungen weckt, die vom Sound her durchgehend gehalten werden, aber nicht durchgängig von den Kompositionen her.
Dafür gibt es allerdings auch die absoluten Highlights – neben dem brisanten Album-Start – zu entdecken, die einen schier umhauen, wie die schmachtende Ballade „Be My Mistake“, bei der ein in einer Beziehung fest gebundener Zeitgenosse darüber philosophiert, ob und wie er nun fremdgeht und die „Fremdfickerei“ von vornherein als Fehler einstuft, während ihm sein schlechtes Gewissen einen Strich durch die Vögelrechnung zu machen versucht, der Alkoholkonsum ihn dagegen ordentlich anspornt.
Einen Song zuvor bekommen wir im ARCADE FIRE-Stil schon eine Anleitung dazu, wie man richtige Liebe macht: „Fucking in a car / Shooting heroin...“ („Love If It We Made It“)
Oder das in Form eines Hörbuchs die Geschichte von einem Typen, der sich komplett den modernen Medien bis zur völligen Selbstaufgabe hingibt, erzählende „The Man Who Married A Robot / Love Theme“, das mit einem von Bläsern begleiteten Beerdigungsmarsch endet.
Auch die elektronische Verspieltheit der großartigen ARCHIVE scheint bei dem Song „How To Draw / Petrichor“ offensichtlich Pate gestanden zu haben, während man auf die Idee, eine Bar-Jazz-Ballade mit elektronischen Spielereien, Sound-Gimmicks und fetten Streichersätzen zu mixen, erst einmal kommen muss. Und wenn diese Idee dann auch noch wie von THE 1975 auf „Mine“ verwirklicht wird, verlangt das selbst dem Kritiker absolute Hochachtung ab.
FAZIT: Vielseitigkeit und nicht die Bohne 70er-Jahre-Musik wird bei THE 1975 großgeschrieben. Auch auf „A Brief Inquiry Into Online Relationships“ gibt es von der in ihrer britischen Heimat heiß geliebten Band alles zwischen Art- und Hochglanz-Pop der 80er bis zu elektronischen Spielereien, ein paar knackigen Indie-Rock-Klängen und viel schmachtenden Melodien sowie verfremdeten Gesang zu hören. Alles eben, was das Pop-Herz mit Hang zu mal flotten, dann wieder ganz ruhigen Schlagfrequenzen begehrt. Das Herz des britischen NME haben sie damit sogar gebrochen und wurden von dem Magazin mit dem Titel „Album des Jahres 2018“ geehrt.
Punkte: 12/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 11.01.2019
Ross McDonald
Matt Healy
Adam Hann
George Daniel
Dirty Hit Ltd./Polydor/Universal
58:33
30.11.2018