Was für eine Überraschung!
18 Jahre Studio-Album-Funkstille – und plötzlich ein lauthalses Neo-Prog-Lebenszeichen der schweizerischen MARILLION-Ausgabe mit italienischer Beteiligung CLEPSYDRA, die genau dort weitermachen, wo sie mit ihrem Suppenhuhn/Oktopus/Fisch-Album „Alone“ im Jahr 2001 aufhörten: Neo-Prog mit eigener Duftmarke und zugleich vielen angenehmen zusätzlichen Parallel-Düften.
Die Geschichte von CLEPSYDRA geht bis ins Jahr 1991 zurück, als sie sich als neoprogressive Schweizer Band gründeten und nach einem Album („Hologram“ 1991) sowie einer EP („Fly Man“ 1993) überraschend bei dem Prog-Vorzeige-Label InsideOut einen Vertrag an Land zogen und 1994 das beachtliche „More Grains Of Sand“ im besten (etwas ruhigeren) FISH-Ära-MARILLION-Stil veröffentlichten, wobei der Song „Moonshine On Heights“ in Insider-Kreisen noch heute als eine Art Neo-Prog-Klassiker gilt. Auf ihrem 1998er-Album „Fears“ kam der italienische Gitarrist Marco Cerulli zur Band, der mit seinem Gitarrespiel ein zusätzliches Neo-Prog-Feeling verbreitete. So wurden CLEPSYDRA schnell in einem Atemzug mit PALLAS und PENDRAGON sowie IQ genannt – und genau dort gehörten sie mit ihrem größtenteils ruhiger gehaltenen Neo-Prog auch hin.
Und selbst wenn das Augen-Motiv auf dem aktuellen Cover langsam, aber immer sicherer zu einer recht ausgelatschten Covermotiv-Idee verkommt, so passt sie durchaus zu dem Konzept-Album „The Gap“, das sich wie gehabt an den besten Zeiten des Neo-Progs orientiert, sogar für CLEPSYDRA ungewohnt rockig beginnt, sich aber dann doch immer wieder auf die ruhigeren und besonders hymnischen Qualitäten besinnt, wie man sie von GENESIS bis MARILLION, aber auch CAMEL oder PENDRAGON sowie JADIS und IQ nur zu gut kennt. Alle, denen diese Bands am Herzen liegen und die nach Musik suchen, welche sich ohne Scheu genau in diesen progressiven Fußspuren bewegt, die landen mit „The Gap“ garantiert einen Volltreffer und werden sich zusätzlich darüber freuen, dass Sänger Aluisio Maggini trotz etwas akzentuiertem Gesang in seiner vokalen Meisterschaft es durchaus mit einem DAMIAN WILSON aufnehmen kann.
Wenn man einen genaueren Blick auf das im ersten Moment banal erscheinende Cover riskiert und sich auf die Widerspiegelung in der schwarz-weiß-gehaltenen Pupille konzentriert, entdeckt man darin zwei menschliche Hände, so als wollten sie sich aus dem eigenen Körper befreien. Genau hier liegt auch das Konzept von „The Gap“ - der Kampf gegen seine eigenen Ängste, Depressionen, Hoffnungslosigkeiten, bereits ausgelöst durch schreckliche Kindheitserinnerungen, die sich immer mehr fortsetzen und nach und nach vermehren. Musikalisch greift CLEPSYDRA so in dem bedrückenden viertelstündigen Longtrack „Millenium“ sogar auf sich steigernde Bolero-Rhythmen eines Maurice Ravel, klassische Klavier- sowie Streicher-Passagen und offensichtliche „Dark Side Of The Moon“-Parallelen von PINK FLOYD zurück.
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Literarische Basis und Inspiration ist offensichtlich LEWIS CARROLs „Alice im Wunderland“, aus dem im Booklet ein kurzer Dialog zwischen Alice und dem weißen Hasen zitiert wird – Alice: „Wie lange dauert die Ewigkeit?“; Weißer Hase: „Manchmal nur eine Sekunde.“
So schön atmosphärisch wie mystisch, farbenfroh wie abwechslungsreich, fragil wie kraftvoll, traurig wie herzergreifend wie in „Alice im Wunderland“ fällt auch „The Gap“ aus, selbst wenn dabei auf den lauthals-vorlauten Hutmacher verzichtet wird. Es sind wieder die emotionalen, mitunter pathosschwangeren und hymnischen Klangwelten, die sich in „The Gap“ öffnen, um dort genau „die Lücke“ zu schließen, welche ohne kitschig-wiederkäuende Neo-Prog-Klischees bedienende Musik auskommt, ein Genuss ist. Einziger Makel ist das einfallslose Ausblenden des Albums nach gut 62 Minuten – da hätte man wirklich mit einem großen Krawumms noch ein starkes letztes Achtungszeichen auf „The Gap“ setzen können, gerade wenn es mit den Worten: „Now we're tired, tired and old / We begin to feel, to feel the cold“, endet.
Summa summarum aber gilt als FAZIT zu „The Gap“: Schön, dass CLEPSYDRA wieder zurück sind und all das mitgebracht haben, was richtig guten Neo-Prog ausmacht!
Punkte: 12/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 11.05.2020
Andy Thommen
Aluisio Maggini
Luigi Biamino
Phil Hubert
Pietro Duca
Eigenpressung/Just For Kicks
62:53
24.11.2019