Harry Chapin ist – zumindest hierzulande – einer der großen Unbekannten, zumindest Unterschlagenen, der amerikanischen Musikgeschichte. Das hängt zum einen mit seinem frühen Unfalltod 1981 im Alter von 38 Jahren zusammen, zum andern damit, dass Chapin sich live in Europa sehr rar machte. Deshalb ist die Aufzeichnung „Live At Radio Bremen 11th April 1977“ mehr als ein kleines Geschenk.
Auch Musikinteressierte, die mit seinem Namen fremdeln, dürften mit Harry Chapins Musik in Berührung gekommen sein. Sei es sein früher Hit „Taxi“, das noch charthöher gestiegene „W.O.L.D.“ oder sein Trademark-Song „Cat’s In The Cradle“. Jüngeren Generationen vermutlich vor allem durch die Coverversion von UGLY KID JOE aus dem Jahr 1993 bekannt. Kurzzeitruhm, der sogar Johnny Cashs Interpretation von 1989 und die von RUND DMC ft. Sarah McLachlan (getarnt als „Just Like Me“ und schlicht klasse) überstrahlt.
Harry Chapin war ein begnadeter Storyteller, der nach eigenem Bekunden „Geschichten über gewöhnliche Menschen und kosmische Momente in ihrem nichtkosmischen Leben“ erzählte. Geradezu kennzeichnend in der grandiosen siebenminütigen Ballade „Taxi“, in der ein Taxifahrer seine frühere Geliebte auf dem Rücksitz erkennt, und überlegt, inwieweit ihre jeweiligen unterschiedlichen Träume, die zur Trennung führten, in Erfüllung gegangen sind. Er kommt zu dem Schluss, dass es wohl der Fall sei, bloß anders als ursprünglich geplant: „And here, she's acting happy, Inside her handsome home, And me, I'm flying in my taxi, Taking tips, and getting stoned“. Später schrieb Chapin noch ein Sequel namens „Sequel“ dazu.
Das zeigt bereits, dass der große Melancholiker auch viel Sinn für Humor hatte. Stellenweise bis in schnodderig-sarkastische Zappa-Regionen hinein („Harry Chapin Introducing The Band“, das in „Blues Man“ übergeht sowie „Dance Band On The Titanic“, inklusive angespielter deutscher Nationalhymne). Musikalisch bewegen sich Harry Chapin und seine hervorragend eingespielten Sidemen (unter anderem Bruder Steve am Piano) zwischen akustischem Rock, Blues, Folk und (seltener) ein bisschen Country. Nicht zu vergessen die Vaudeville-Momente, in denen das Band-Podium zur Theaterbühne wird.
Die Interpretationen auf „Some More Stories Live“ sind präzise, kantig, verspielt und so innig wie kraftvoll. Für besonders ergreifende Momente sorgt Kim Scholes am Cello. Die bildhaften Songs entfalten ihre traumhafte Wirkung gerade live. Hilfreich dabei, dass die Aufnahme und Johannes Scheibenreifs Audio Mastering exzellent sind. Die oben genannten Hits sind natürlich enthalten, weshalb das achtzigminütige Album sogar als kleine Werkschau, besonders aber als Einstieg in die Welt des famosen Harry Chapin taugt. Sollte man sich gönnen.
FAZIT: „Some More Stories Live“ ist die in jeder Hinsicht gelungene Aufzeichnung eines raren europäischen Auftritts von Harry Chapin. Ein Radiomitschnitt aus der Bremer Post-Aula. Soundtechnisch prächtig aufbereitet. Wunderbarer Ausgangspunkt für eine Reise in die Welt des magischen Realismus eines viel zu früh und jung verstorbenen Musikers. Der auch bekannt dafür war, dass er die Einnahmen seiner Konzerte vielfach der Welthungerhilfe spendete. Guter Mann.
<i>I don't know when
But we will dream again
And we'll be happy then
'Til our time just drifts away </i>
(„Dreams Go By“)
Erschienen auf www.musikreviews.de am 16.04.2020
'Big' John Wallace
Harry Chapin, Steven Chapin, 'Big' John Wallace
Harry Chapin, Doug Walker
Steven Chapin
Howie Fields
Doug Walker (mandolin), Kim Scholes (cello)
MiG Music
79:58
28.02.2020