Während der Titel von NEAL MORSEs jüngstem Album auf das Martin-Luther-Konzeptalbum "Sola Scriptura" von 2007 anspielt, beschäftigt sich der Tausendsassa dieser Tage mit der Wandlung des römischen Christenverfolgers Saulus zum Paulus, der die (katholische) Kirche praktisch so begründete, wie wir sie heute kennen.
Das überrascht natürlich niemanden, der um den Glauben des Multi-Instrumentalisten und Ausnahme-Komponisten weiß, aber auch auf rein musikalischer Ebene gibt "Sola Gratia" selten (falls überhaupt) Anlass zum verwunderten Kopfkratzen. Die Platte geht mehr oder weniger genau als etwas kompakteres Pendant ihres Vorgängers durch.
Schließlich war die achte Soloplatte des frommen Amerikaners, das letztjährige Monumentalwerk "Jesus Christ: The Exorcist", eine aufwändige Rockoper, und dieser gegenüber bietet "Sola Gratia" eine Form von konservativem Progressive-Kram, der NEALs Ex-Band vielleicht so nahe steht wie kein Alleingang seit seinem Ausstieg vor fast 20 Jahren.
Der 60-Jährige, der auf ewig mit seiner Ur-Band Spock's Beard assoziiert wird, ob es ihm gefällt oder nicht, realisierte seine teilweise auch an an "?" erinnernden Ideen während der Corona-Pandemie im Lockdown per Internet gemeinsam mit seinen Stamm-Zuarbeitern Mike Portnoy (Schlagzeug) und Randy George (Bass), doch dass sich die Musiker zu keiner Zeit persönlich trafen, während sie die Scheibe produzierten, hört man ihr nicht an. Einige Parts gehen aufs Konto von Gitarrist Eric Gillette und Organist Bill Hubauer, aber auch sie sind sozusagen Familienmitglieder und hatten keinerlei Einfluss auf die Musik an sich - geschweige denn den Gesang, aus dem Morse wieder einmal im vollen Umfang Kapital schlägt.
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Auch 2020 braucht der Gute (!) zwei Tracks, ehe er richtig loslegt. Mit 'In The Name Of The Lord' findet MORSE einen erstaunlich rauen, richtig harten Einstieg, dessen Direktheit die Sequenz aus 'Ballyhoo (The Chosen Ones)', 'March Of The Pharisees' und 'Building A Wall' (sozusagen ein dreiteiliges, zusammenhängendes Stück) in puncto Komplexität und Opulenz bis zu einem gewissen Grad aufwiegt.
Dennoch erweist sich "Sola Gratia" mit fortlaufender Spielzeit als Song-orientierteste LP des Mannes seit Langem. Skippt man die zahlreichen Interludien, bleiben eigentlich fast nur Volltreffer übrig, ob die sehnsüchtige Ballade 'Overflow' oder der Ohrwurm-Doppelschlag 'Now I Can See/The Great Commission' zum Schluss.
Dass das fast zehnminütige 'Seemingly Sincere' als vorhersehbarer Longtrack eben nicht der stärkste Moment ist, überrascht letzten Endes doch.
Der Künstler verspricht übrigens ein Sequel, da seine Erzählung hiermit noch nicht abgeschlossen ist …
FAZIT: "Sola Gratia" ist "mal eben" NEAL MORSEs bestes Soloalbum seit … nein, eigentlich das erste Spock's Beard in vollem Umfang ebenbürtige! <img src="http://vg05.met.vgwort.de/na/8439baa6b72e4f9b996d61cb0f8b94c1" width="1" height="1" alt="">
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 05.09.2020
Inside Out / Sony
65:46
11.09.2020