Material für gleich zwei rund halbstündige Alben warf RECKLESS KELLYs aktuelles Repertoire ab, das in den letzten vier Jahren erarbeitet wurde, und erstaunlicherweise klingt die Band neuerdings praktisch genauso hingebungsvoll wie während ihrer Sturm-und-Drang-Phase Mitte bis Ende der 1990er.
Dennoch hätte "American Jackpot / American Girls" damals nicht in dieser Form herauskommen können, denn die Zeiten haben sich auch und gerade in Bezug auf das Sujet, dem sich die seit einem Vierteljahrhundert zusammenspielenden Musiker aus Idaho derzeit nun widmen, erheblich geändert. Die Songs zeichnen nämlich nichts weniger als ein Sittenbild mit Lokalkolorit und bilden so ein Panorama der gesamtamerikanischen Seele (falls es eine einzige und einheitliche gibt …) zu Beginn der 2020er Jahre.
Die Tracks wurden in zwei getrennten Studio-Sessions eingespielt, zwischen denen gleichwohl nur wenige Monate lagen. Zur illustren Gästeschar, die den Doppeldecker mit angeschoben hat, zählen u.a. Charlie Sexton? und Gary Clark Jr., derweil Sänger und Gitarrist Willy Braun wie schon auf dem Vorgänger "Sunset Motel" im Brennpunkt steht.
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Ohne Klangfarben von Fiddle, Lapsteel-Gitarre oder Klavier bzw. Orgel wären nachdenkliche Betrachtungen wie 'North American Jackpot', 'Lonesome On My Own' oder 'Another New Year's Day' klassische Liedermacher-Nummern, doch die füllige Soundkulisse wertet sie zu fantasievollem Country auf, der sich nicht nur aufgrund seiner Inhaltsschwere unangenehmen Genre-Klischees entzieht.
Das stampfende 'Mona', der hämmernde Rocker 'Lost Inside The Groove' und das kratzige 'Company of Kings' sind neben dem mit Akkordeon in die Ferne schweifenden 'All Over Again (Break Up Blues)' hingegen die deutlichsten Belege dafür, dass sich RECKLESS KELLY ihren Biss über die Jahre hin bewahrt haben.
FAZIT: "American Jackpot / American Girls" wirkt vielleicht auch deshalb so eindringlich, weil die Songs RECKLESS KELLYs Sorge um die Gesellschaft nicht nur ihres Heimatlandes Ausdruck verleihen. Diese Prämisse macht das Doppelalbum zu einem oft lauten, aber auch in ruhigen Momenten lautstarken Sozialkommentar und Musterbeispiel für Post-Americana, die das schöne Versprechen der Vereinigten Staaten relativiert. <img src="http://vg07.met.vgwort.de/na/657cfa0c82494a9baf002c74b2bfba11" width="1" height="1" alt="">
Punkte: 12/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 15.05.2020
No Big Deal / Thirty Tigers - Membran
63:47
22.05.2020