„Es gibt Momente“, da singt nicht nur HANSI BIEBL diesen fantastischen DDR-Song, sondern da kann man auch ziemlich sauer werden, wenn man als Ex-DDRler seit mehr als drei Jahrzehnten erleben muss, wie viel Desinteresse der Kultur, Literatur und Musik des Landes, in dem man lange Zeit liebte und lebte sowie gegen innere und äußere Widerstände ankämpfte, seitens derjenigen entgegengebracht wird, die zwar die gleiche Sprache sprechen, aber einfach auf der anderen, freien Mauerseite nicht sonderlich an ihren eingemauerten Brüdern und Schwestern interessiert waren und sind.
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Dabei hatte dieses nun verschwundene Land samt der Menschen, die darin lebten, ein völlig neues historisches Kapitel geschrieben, das durch eine historisch einmalige friedliche Revolution – die so viele Deppen, inklusive der Presse, heutzutage im Egon-Krenz-Sprech als eine „Wende“ verewigt haben – eine komplette Diktatur zu Fall brachte.
„Es gibt Momente, da stellen sich die Weichen, und selten und selten von allein … Hey, alle Tore, stehen offen auch für dich!“ HANSI BIEBL erscheint <a href="https://www.youtube.com/watch?v=ZWj67Uy2LaE" target="_blank" rel="nofollow">mit diesem Song aus dem Jahr 1978</a>, zugleich Platz 55 auf dem Radioeins/AMIGA-Sampler „Die 100 besten Ost-Songs“ fast hellseherische Kräfte zu entfalten, die das ankündigen, was elf Jahre später glückliche Wirklichkeit werden sollte. Ein Glück, das leider nicht wirklich auf Dauer anhielt, auch weil mit der Mauer zugleich die Kultur des Landes in Vergessenheit geraten und zu verschwinden schien. Verblieben anscheinend nur noch ein paar Nostalgiker, die Erinnerungen an diese Zeit am Leben hielten. Da war wohl doch so einiges schiefgelaufen und das „Traumpaar des Jahrhunderts“ (SILLY) verkam zur immer liebloseren Zweckehe, aus der am Ende <a href="https://www.youtube.com/watch?v=MCKdli4Skbg" target="_blank" rel="nofollow">„Verlorene Kinder“ (ebenfalls SILLY)</a> hervorgingen, denen man ihr Land und ihre Vergangenheit scheinbar genommen hatte.
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Setzt man allein die deutsche Musikkultur Ost der deutschen Musikkultur West entgegen, dann müsste vielen ganz schnell auffallen, dass aus dem Osten deutlich Interessanteres und Besseres kam als aus dem Westen. Denn bekanntlich ist die Kunst, welche in einer Diktatur entsteht, deutlich kreativer, verschlüsselter und intensiver, da sie ständig auf des Messers Zensuren-Schneide steht und beweist, welche Macht tatsächlich mit den gesprochenen und gesungenen Worten zu erreichen ist. Widerstand hieß in der DDR wieder stehen, auf eigenen Beinen, damit das zwangvoll gebogene Rückgrat nicht bricht oder wie es <a href="https://www.youtube.com/watch?v=fcdkwdfz0GA" target="_blank" rel="nofollow">die verbotene Ex-DDR-Liedermacherin BETTINA WEGNER in einem der schönsten deutschsprachigen Lieder aller Zeiten „Sind so kleine Hände“</a> emotional, politisch und menschlich schwer beeindruckend sang: „Leute ohne Rückgrat haben wir schon zu viel!“
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Es war eine riesige Chance, mit sechs CD's die interessantesten musikalischen Strömungen der DDR nicht nur aufzuzeigen, sondern endlich auch einmal mit der entsprechenden Würde denjenigen zu präsentieren, die voller Vorurteile nicht nur der DDR, sondern auch ihrer Musik gegenüberstehen. Und gerade einer der besten deutschen, weil nicht so extrem mainstreamlastigen Radiosender – radioeins – hatte die Möglichkeit, diese anspruchsvolle Mission in die musikalische Wirklichkeit umzusetzen. Doch Oberflächlichkeit, Ideenlosigkeit und offensichtliche Falschinformationen sind im Endeffekt das traurige Ergebnis, auch wenn es auf den ersten Blick so fein verpackt und mit megafettem 64-seitigen, DVD-großen Booklet sehr anspruchsvoll wirkt. Wie es allerdings zu der Zusammenstellung der 100 Titel ohne jegliche halbwegs logische Zuordnung kam, spottet jeder Beschreibung. Genauso wie die Behauptung, dass diese Box „AMIGA - Die 100 besten Ost-Songs“ nach nunmehr 30 Jahren die erste so umfangreiche Zusammenstellung mit DDR-Titeln (Übrigens sprach man in der DDR nie von Songs, sondern Hits, Titeln, Liedern, Stücke usw… Songs standen ausschließlich für die englischsprachigen Titel.) ist. Bereits vor 10 Jahren erschien aus Anlass des 20-jährigen Mauerfall-Jubiläums <a href="http://www.ostparade.de/" target="_blank" rel="nofollow">„Die 100 größten Osthits“</a>, präsentiert von RockRadio und R.SA und tatsächlich von Hörern, nicht aber wie bei der radioeins-Zusammenstellung von Musikern und anderen „Experten“ individuell zusammengewürfelt und jeglicher Logik entbehrend, wodurch extrem wichtige Bands und Stücke fehlen, komplett Überflüssiges oder aus AMIGA-Sicht Falsches (sprich – Titel die nie bei AMIGA erschienen) in die Box mit einfloss. Das alles einem auch noch mit dem Superlativ „beste“ zu versehen, grenzt an ostmusikalisch-fachlicher Frechheit.
Im Grunde fängt es schon damit an, dass es nicht 100 „Ost-Songs“ zu hören gibt, sondern nur 98, da aus rechtlichen Gründen die beiden BIERMANN-Titel (Platz 39 – „Die hab' ich satt“ / Platz 66 – „Warte nicht auf bess're Zeiten“) in der Box fehlen. Auch ist die Biermann-Wahl im Grunde echter Quark, da der Liedermacher nie mit einem Album in der DDR erschien. Auch ist seine Qualität als Sänger ziemlich mau, dafür aber waren es seine provokanten Texte umso besser. Am Ende aber konnte er darum auch seine Lieder nie im Osten unter AMIGA, sondern nur im Westen (!!!) veröffentlichen. Nichts da mit vonwegen „Ost-Song“, stattdessen West-Song mit Ost-Problematik. Aber davon gab's auch im Westen noch deutlich mehr, z.B. von Stephan Krawczyk oder Bettina Wegner, die, wenn überhaupt, mit „Kinder (Sind so kleine Hände)“ das beste Lied schrieb und sang, welches je im Osten entstand. Dies ist kurioserweise auf einem hinteren Platz auf dem Sampler enthalten, obwohl es niemals bei AMIGA bzw. in der DDR erschien!
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Auch sollten wir endlich mit dem Fehlurteil aufräumen, dass ein UDO LINDENBERG die deutsche Sprache in der Rockmusik etablierte. Das war eindeutig den Bands THOMAS NATSCHINSKI UND GRUPPE sowie der THEO SCHUMANN-COMBO und KLAUS LENZ vorbehalten, die 1968 mit „Die Straße“ und 1969 mit „Theo Schumann-Combo“ sowie 1970 mit „Klaus Lenz für Fenz“ die ersten waschechten deutschen Rock-Alben veröffentlichten, während Herr Lindenberg mit seinem englischsprachigen „Lindenberg“-Debüt 1971 floppte und ein Jahr später auch deutschsprachig ziemlich erfolglos die „Daumen im Wind“ hielt.
Vielleicht wundert's dafür aber nach diesen Zeilen doch den Einen oder die Andere, dass bis auf Natschinskis „Mokka Milch Eisbar“ keine der richtungsweisenden DDR-Rock-Bands auf dem Sampler vertreten sind.
Natürlich musste aber – alles Andere wäre pure DDR-Rock-Missachtung gewesen – CITYs „Am Fenster“ auf den ersten Platz gehievt werden, doch auch der ist nicht in seiner grandiosen, 17 Minuten langen Version enthalten. „Am Fenster“ war und ist das zeppelinsche „Stairway To Heaven“ der DDR und eins der weltweit besten Rockstücke, in der eine Geige eine erheblich Rolle spielt. Was aber soll die wissenschaftliche Abhandlung im Booklet zu einem der wohl leidenschaftlichsten DDR-Stücke „Am Fenster“, das dann auch noch in seiner nur verkürzten Variante präsentiert wird. Zum Glück hat mir Professor Doktor Hartmut Fladt von der Berliner Universität der Künste nie zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses symphonischen Meisterwerks zu erklären versucht, wie man „Am Fenster“ zu verstehen hat, mit einem „Intro mit Pendelharmonik in g-Äolisch (g-Moll/F-Dur)...“. Wahrscheinlich hätte er mir auf diese Weise, wie viele andere Theoretiker bzw. meine Musiklehrer, damals die Freude an diesem Meisterwerk verdorben.
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Dafür findet man auf dem Sampler jede Menge der sog. „anderen bands“ (SANDOW, HERBST IN PEKING, DIE ANDEREN, DIE ART, DIE FIRMA, DIE VISION, AG GEIGE…) vertreten, die wenige Jahre vorm Zusammenbruch des Mauerstaats mit experimentellen oder Punk-Titeln ohne großartiges musikalisches Niveau, dafür aber sehr provokanten Texten aufwarteten, wobei natürlich FEELING B, aus denen später im Grunde RAMMSTEIN hervorgingen, die bekanntesten waren. Lächerlich, dass gerade diese Band mit 5 (!!!) Stücken vertreten ist, während wahrhaft große Musiker und Bands (STEFAN DIESTELMANN, die bekannteste DDR-Blues-Größe neben ENGERLING, JÜRGEN KERTH und HANSI BIEBL, oder typische DDR-Hardrocker, wie PRINZIP, BABYLON, BIEST und FORMEL 1 oder ANGELIKA MANN, REFORM, MAGDEBURG, WIR, PETRA ZIEGER und IC, der seit 1986 bis Mauerfall immer in die Top-Ten der DDR-Hitparade stürmte, usw.) ausgespart wurden. Denen fehlte wohl irgendwie die radioeins-Lobby!
Und ob man den Titel nun mochte oder nicht: „Jugendliebe“ von UTE FREUDENBERG war und ist noch immer einer der meistgehörten DDR-Songs. Auch der fehlt, genauso wie ein Schlagerstar wie FRANK SCHÖBEL, der mit „Wir brauchen keine Lügen mehr“ sogar die kritischen DDR-Bürger im Zeitalter der Zensur überrascht aufhorchen ließ.
Selbst ein GERHARD GUNDERMANN, dessen Leben gerade erfolgreich verfilmt wurde, schafft's gerade so mit einem echt belanglosen Stück auf den 98. Platz, statt mit „Halte durch“ weit vorne zu landen. Dafür aber schummelt man von KEIMZEIT „Kling Klang“ auf Platz 23 unter, obwohl der Titel erst Jahre nach dem Verschwinden der DDR erschien.
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Und dann noch dieses „Gesamt-Ost“-Palavre, das überhaupt nicht passt – die Musik hätte sich auf die DDR beschränken müssen, denn geht man tatsächlich von osteuropäischer Musik aus, dann ist es wiederum lächerlich, einen Song von NIEMEN und einen von den ROTEN GITARREN sowie von OMEGA, nur weil die bei AMIGA veröffentlicht wurden, mit einzuschmuggeln und all die großen osteuropäischen Bands, wie AUTOGRAF, BERGENDY, BLUE EFFEKT, BREAKOUT, BUDKA SUFLERA, COLLEGIUM MUSICUM, EAST, FERMATA, FONOGRAF, HUNGARIA, ILLES, KOMBI, LOCOMOTIV GT, NO TO CO, PIRAMIS, PRUDY, SBB, SKORPIO usw. auszusparen.
Auch lebte ein Großteil der erfolgreichsten ostdeutschen Musikstücke von langen, symphonischen Titeln, wie „Weißes Gold“ und „Reise zum Mittelpunkt des Menschen“ von der STERN-COMBO MEISSEN, „Meeresfahrt“ von LIFT, „Die sixtinische Madonna“ von ELECTRA, „Das Gewitter“ von UVE SCHIKORA, „Daß kein Reif...“ von REINHARD LAKOMY, „Gloriosa“ von JÜRGEN KERTH, „Zeit“ von WIR sowie Adaptionen von ELECTRA, STERN-COMBO MEISSEN oder die Suiten von BAYON! Alles fehlt! Würde jemals wer auf die Idee kommen, wenn er die anglo-amerikanische Musikgeschichte aufarbeitet, die extrem erfolgreiche Epoche der 70er-Jahre und der progressiv-psychedelischen Longtrack-Ära von PINK FLOYD bis YES und ELP oder LED ZEPPELIN und DEEP PURPLE auszusparen? Genau das aber passiert auf dieser 6-CD-Box mit den angeblich besten „Ost-Songs“!
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Insgesamt eine unausgegorene DDR-Musik-Mogelpackung und zugleich Enttäuschung aus dem Musik-Hause „radioeins“, die es durchaus mit etwas mehr Liebe zum Detail deutlich besser hätten machen können! FAZIT und aus… Bleibt zu hoffen, dass irgendwann, irgendwer, irgendwo endlich einmal die Geschichte der DDR-Musik medienwirksam so aufarbeitet und erklingen lässt, wie sie es sich längst, seit nunmehr über 30 Jahren, verdient hätte.
<b>PS: Der Fairness halber hier die Auswahl der beteiligten „Experten“ und was dazu unter radioeins zu erfahren ist:</b>
Die Auswahl der Jury war prominent besetzt mit insgesamt 115 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus Musik, Funk und Presse. Darunter Anja Caspary (Musikchefin radioeins), Christoph Dieckmann (DIE ZEIT), Jens Uthoff (taz), Maik Brüggemeyer & Max Gösche (Rolling Stone Magazin), Christian Hentschel (SCHALL Magazin), Runa Liebe, Willy Ehmann & Jörg Stempel (Musik Label) weitere Musik-Journalisten, Autoren, Podcaster, Tourveranstalter, Plattenladen- Betreiber und natürlich viele Musiker wie etwa André Herzberg (Pankow), Angelika Mann, Arnim Teutobug Weiß (Beatsteaks), Christian "Flake" Lorenz (Rammstein), Dieter "Maschine" Birr (Puhdys), Dirk Zöllner, Gero “Stumpen“ Ivers (Knorkator), Inga Humpe & Tommi Eckart (2raumwohnung), Lutz Kerschowski, Manuel Schmid (Stern Combo Meißen), Ralf Blümner (Goldkind), Ritchie Barton (Silly), Tino Eisbrenner und Toni Krahl (City), um nur einige zu nennen, die natürlich alles, nur nicht sich selbst wählten, dafür aber viel Expertise einbrachten.
Das Ergebnis ist von erwartet bis überraschend ausgefallen. Auf alle Fälle eine tolle und sehr unterhaltende Mischung aus vielen unterschiedlichen Musikstilen, einer Vielzahl von Künstlern, wunderbaren, unvergesslichen Hymnen und zugleich gespickt mit so manchem hörenswerten Außenseiter. Einige davon sogar seit langem oder gar nie auf CD oder online verfügbar.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 14.02.2020
Sony Music/AMIGA
407:43
15.11.2019