<b>„Progressive Rock aus Deutschland! Nie zuvor gab es eine vergleichbare Zusammenstellung!“</b> (Produktinfo von Bear Family Records, die es zu 100% auf den Punkt bringt!)
Jetzt hauen Bear Family Records einen endgültig um. Denn die Bewahrer musikalischer Vergangenheiten, die sich hauptsächlich in den 50ern und 60ern, aber auch deutlich früher abspielen, und größtenteils dem Rock'n'Roll, R&B, Funk, Jazz und Soul widmen, steigen nun wie gewohnt extrem akribisch in eine Serie ein, die jedem Freund der progressiven Rockmusik aus Deutschland Tränen des Glücks in die Augen und die pure akustische Faszination in die Ohren sowie die illustersten und umfangreichsten Informationen in den Geist steigen lässt: „Kraut! - Die innovativen Jahre des Krautrock 1968-1979 – Teil 1“.
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Krautrock! Ja! Das war doch die progressive Musik-Bewegung, der bereits im 2. Weltkrieg als Kartoffel- und Krautfresser aus Old Germany Katalogisierten, die längst als vorbildlich in die Musik-Geschichte einging, weil um die Spät-60er-Jahre rum deutsche Bands versuchten, dem anglo-amerikanischen Prog-Rock ihre ureigene „Land der Dichter und Denker“-Variante entgegenzusetzen und sich von den übergroßen Vorbildern mit neuen, extrem verspielten, kunter-kräuter-bunten Musik-Ideen zu emanzipieren. Und selbst wenn es so einiges in Deutschland gibt, worauf man nicht wirklich stolz sein kann – auf den Krautrock, ein Begriff der uns natürlich aus dem Ausland (Wahrscheinlich von dem legendären englischen BBC-Radiomoderator JOHN PEEL!) übergestülpt wurde, dürfen wir es von ganzen Herzen und mit weit offenen Ohren sein!
Der erste Teil der Doppel-CD, dem ein ausgezeichnetes, an Informationen kaum noch zu übertreffendes 100-seitiges (!!!), reichlich bebildertes Booklet beiliegt, in dem in deutscher Sprache nach kurzen Ausführungen zum Krautrock-Genre zu jeder der 22 Bands zwischen zwei und sechs Seiten verfasst wurden, auf denen grundsätzlich alle beteiligten Musiker und deren Alben sowie eine detaillierte Band-Geschichte angegeben werden. Wenn jemand nach einem wirklich auskunftsreichen Krautrock-Nachschlagewerk sucht, das sich noch dazu durch eine hervorragende akustische Titelauswahl, welche mitunter Songs mit bis zu einer knappen Viertelstunde Spielzeit (ELOY „The Light From Deep Darkness“) beinhaltet, dann hat er dieses, auf insgesamt vier Teile (Norden, Mitte, Süden und Berlin) angesetzte Werk, jetzt gefunden. Ohne Wenn und Aber!
Sicher werden bereits nach dem ersten Teil Suchtwirkungen aufkommen – und das einzig traurige an diesem musikalischen Hör-Nachschlage-Werk ist, dass man etwas Wartezeit aufbringen muss, bis man alle vier Teile, die in zeitlichen Abständen erscheinen (Teil 2 im Juni 2020), zusammenhat.
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Die Teile wurden nicht umsonst in kraut-universale Richtungen gelenkt – und zwar in die Himmelsrichtungen – immerhin ist der Krautrock ja auch himmlische Musik, oder?
Allerdings wird noch immer der Osten ausgespart, obwohl gerade dieser diktatorisch so schrecklich gemaßregelte Himmelsteil jede Menge an hervorragenden, auch progressiv-krautigen Musikentdeckungen bereithält.
Der erste Teil beginnt natürlich mit der Himmelsrichtung, nach der man weltweit jeden Kompass ausrichtet: Norden – so eine Art Fischkopp-Krautrock der Jahre 1969 bis 1978 also. Und was die Jungs und Mädels dort draufhaben, offenbart uns diese Zusammenstellung, zu deren Highlights garantiert „How The Gipsy Was Born“ von FRUMPY mit der begnadeten 'Rockröhrin' INGA RUMPF, die auch bei ATLANTIS auftaucht, und „Wer Schmetterlinge lachen hört“ von NOVALIS auf der ersten CD und „Desolation Valley“ von NEKTAR sowie bereits benanntes „The Light From Deep Darkness“ von ELOY auf der zweiten CD gehört!
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Ein weiterer positiver Aspekt an dem Nord-Kraut-Erlebnis ist, dass alle Aufnahmen durch Marcus Heumann von den größtenteils digitalen Bandkopien gemastert wurden, wobei er großen Wert darauf legte, dass der Sound, wie leider viel zu oft in der Vergangenheit, nicht mehr recht verwaschen, sondern kristallklar und mit einer beeindruckenden Stereo-Kanal-Trennung daherkommt. Da klingen plötzlich schon über 50 Jahre alte Stücke so richtig frisch! Sensationell ist hierbei beispielsweise die FRUMPY-Kultversion von „How The Gypsy Was Born“ samt gigantischer Kanaltrennung mit fetter Orgel auf der einen und wilden Gitarren auf der anderen Seite.
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Im krautrockigen Norden jedenfalls ist Hamburg die (un)heimliche Keimzelle – das wird dadurch ganz offensichtlich, dass gleich neun auf dem Sampler vertretene Bands aus der Hafenstadt kommen: LUCIFER'S FRIEND, ATLANTIS, MICHAEL ROTHER, TOMORROW'S GIFT, IKARUS, NOVALIS, OUGENWEIDE, FRUMPY und A.R. & MACHINES. Gefolgt von Bremen mit fünf (GALAXY, GASH, THIRSTY MOON, PERCEWOOD'S ONAGRAM und PARZIVAL) und Hannover mit drei (RAMSES, JANE und ELOY) Vertretern!
Aber auch MICHAEL ROTHER, der Gitarrist von NEU!, der zuvor bei KRAFTWERK ausgestiegen war, beglückt den Hörer auf diesem Sampler mit einem der schönsten Instrumentaltitel – übrigens neben A.R. MACHINES (CD 2) der einzige des gesamten ersten CD-Samplers – aller Zeiten, dem man während der 7 Minuten Rothers Mitgliedschaft in beiden Bands tatsächlich anhört. Diese „Flammenden Herzen“ von der gleichnamigen 1977er Debüt-LP, welche er gemeinsam mit dem CAN-Schlagzeuger Jaki Liebezeit aufnahm, werden garantiert die Herzen aller Krautrock-Freunde, die das Stück vielleicht noch nicht auf dem Schirm hatten, ebenso entflammen!
Dann gibt’s da auch noch die gänzlich unbekannten, schwer psychedelischen GASH, die doch tatsächlich in ihrem gesamten Song mit dem Herzschlag-Motiv aufwarten, womit ein Jahr später PINK FLOYD auf „Dark Side Of The Moon“ zu Weltruhm gelangten. Am Ende brachte es die Bremer Band gerade mal auf ein beim Brain-Label veröffentlichtes Album. Schade, werden viele denken, wenn sie „A Young Man's Gash (Part 2)“ hören.
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Demgegenüber stehen zugleich viele Entdeckungen, die man in dem Booklet machen kann. Beispielsweise wird ACHIM REICHEL, der gemeinsam mit FRANK DOSTAL als A.R. & MACHINES mit seinen Loop-Experimenten eine ungewöhnlich psychedelische Ambient-Musik entfachte, die als „Die Grüne Reise“ erst völlig missverstanden und dann hochverehrt wurde, auch weil BRIAN ENO und ROBERT FRIPP erst zwei Jahre nach diesem Album mit ihren Loop-Spielereien auf „No Pussyfooting“ jede Menge Aufmerksamkeit erhielten, darin ausgiebig mit sechs Seiten bedacht. Eine davon gibt den umfangreichen Brief der beiden Musiker an den Chef-Redakteur des POP-Magazins, das „Die Grüne Reise“ extrem verrissen hatte, wieder, in dem beide Musiker feststellen: „Da wird von Pop-Musik gesprochen, als wäre sie eine exakte Wissenschaft mit allgemein anerkannten Maßstäben für Qualität. […] Alleinige Gesetzgeber sind die Kritiker. Musik wird zur ernstesten Angelegenheit überhaupt. Persönlicher Geschmack ist Hochverrat. […] Wir können uns vorstellen, dass es schwierig ist, etwas zu sagen, wenn man eigentlich nur sagen will: 'Das gefällt mir nicht'. Aber sind Sie der Meinung, dass mangelnde Sachkenntnis und polemische Stimmungsmacherei Ihren Lesern oder uns unter dem Namen 'Kritik' irgendwie von Nutzen sind?“
Die Zeit jedenfalls gab Reichel & Dostal recht. Krautrock und „Die Grüne Reise“ sind nach wie vor in aller Munde. Erinnert sich irgendwer noch an das Magazin POP?
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Mit NEKTAR wiederum hat sich ebenfalls eine aus Sampler-Sicht einzigartige Band, die längst legendär ist, mit eingeschlichen, denn im Grunde sind alle vier Mitglieder der Band Briten, die sich allerdings in Deutschland niederließen und mit ihrer Mixtur aus PINK FLOYD, KING CRIMSON und HAWKWIND den deutschen Krautrock maßgeblich, stellenweise sogar federführend, mitbestimmten, wobei besonders auch ihr charismatischer, im Jahr 2016 verstorbener Frontmann ROYE ALBRIGHTON einen gehörigen Anteil hatte.
FAZIT: Krautrock lebt! Und wie! Mit „Kraut! - Die innovativen Jahre des Krautrock 1968-1979 – Teil 1“ aus dem Hause Bear Family Records erhält diese Musikströmung endlich eine ihr völlig gerecht werdende Ehrung als eine Kombination aus der Musik von 22 Bands, alle aus dem Norden Deutschlands, und einem echten deutschsprachigen 100-seitigen Mini-Lexika als wahres Füllhorn von Informationen über alle auf dem 2-CD-Sampler vertretenen Bands. Eine absolut vorbildliche Zusammenstellung, die ihresgleichen sucht! Wer sich dem ersten Teil (Norden) hingibt, der wird sicher kaum die noch folgenden Teile zwei (Mitte), drei (Süden) und vier (Berlin) erwarten können.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 24.05.2020
Bear Family Productions
136:51
06.03.2020