Als das „Tell!“-Musical am 31.07.1977, einen Tag vor dem Schweizer Nationalfeiertag, uraufgeführt wurde, sorgte dies für einiges Aufsehen und viel negative Resonanz. Vielen Eidgenossen ging das vorwitzig modernisierte Werk zu despektierlich mit dem Schweizer Nationalhelden um. Die Presse zerriss es, das Publikum blieb aus. „Tell!“ wurde zum exorbitanten Flop.
In den deutschen Medien kam das Musical etwas besser weg; so schrieb das Hamburger Abendblatt am 03.08.1977 etwa: „Wilhelm Tell, der in Jeans auftritt, es mit der schönen Stauffacherin treibt und mit den Eidgenossen auf dem Rütli Krach kriegt, ist als herrlicher Ulk angekommen“. Wohingegen der Spiegel in seiner Ausgabe vom 08.08.1977 resümierte:
„Das Rock-Stück nach Schiller von Beat Hirt (Text) und Tommy Fortmann (Musik) schleppt sich trotz flotter Songs, illustrer Besetzung (Bluessänger Alexis Korner als Gessler) und spritziger Ballettszenen durch spärliche Gags zum müden Finale. Pressereaktion: negativ; Kartenverkauf: enttäuschend. 930 000 Schweizer Franken, die 16 Privatleute bislang in die Produktion investiert haben, dürften wohl abzuschreiben sein. Der Apfel ist ab.“
MiG-music, die sich rührig um das deutsche Musikerbe kümmern, haben die Aufnahme ausgegraben und 43 Jahre nach der Erstveröffentlichung in einer feinen 2-Disc-Version auf CD herausgebracht. Die erste Silberscheibe enthält das Originalalbum, auf der zweiten sind klanglich hervorragende Demo-Aufnahmen mit anderer Besetzung (so singt Komponist Fortmann die Titelrolle), die der veröffentlichten Platte kaum nachstehen, eher im Gegenteil.
Musikalisch ist „Tell!“ besser als sein Ruf. Zumindest heutzutage wirkt diese unbedarft-wilde Mixtur aus Pop, Schlager, Münchener-Disco-Sound mit einer Prise Soul und Krautrock so knuffig wie ein weiches Kissen, mit dem die Spanische Inquisition freundliche Omas foltert. Daneben ist bereits die Besetzungsgeschichte ein wahres Schmankerl. Von der Aufführung ist Alexis Korner als Landvogt Gessler übriggeblieben und singt ein höchst akzeptables Deutsch. Den intriganten Gitarristen gibt Udo Lindenberg (auf der Schweizer Bühne gastierte Ron Williams) im typischen Schnodderton. Besonders das „Gitarrenlied“ wirkt, als wäre es für Lindenberg maßgeschneidert.
Den aufmüpfigen Wilhelm Tell interpretiert Jürgen „Kornfeldbett“ Drews (in der Bühnenversion der hierzulande wenig bekannte Toni Vescoli) unauffällig aber genehm. Spannender ist jedoch, wer den Tell NICHT singt. Udo Jürgens war kurz davor, sich die Rolle einzuverleiben, wenn nicht sein ehemaliger Manager Hans Beierlein ein dickes Veto eingelegt hätte. So gehört Jürgens nur zu den Aktionären, die mit „Tell!“ Geld verbrannten. Immerhin verweist das von Su Kramer interpretierte „Helden“, mehr oder weniger offensichtlich, auf Udo Jürgens gleichnamiges, ambitioniertes Werk.
Zur weiteren Besetzung gehören noch Jacqueline Nemorin aka „Jackie Carter“ und die schillernde Romy Haag.
Passend zur schmissigen Flower-Power-Pop-Up-Mucke versuchen die Texte, tiefsinnig zu wirken, feiern dabei aber eine unbeschwerte Naivitäts-Sause. Da könnte so mancher Deutsch-Rapper und Betroffenheitsschinder eine intensive Lehrstunde nehmen.
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FAZIT: Dank Mig-music aus der Nische der Vergessenheit ans Licht der Öffentlichkeit: „Tell!“ ist ein charmantes Vergnügen, das mit seiner kuriosen musikalischen Mischung und dem nicht immer freiwillig erzeugten lyrischen Witz launig unterhält. „Tell!“ ist eines jener krumpeligen Kuschelrocktierchen, die man einfach gern haben muss. Dazu gibt es gratis eine spannende Hintergrundgeschichte – für gelungenes Entertainment ist gesorgt.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 02.06.2020
Armand Volker, Frank Diez
Udo Lindenberg ,Alexis Korner, Jürgen Drews, Su Kramer, Jackie Carter , Romy Haag
Armand Volker, Frank Diez, Uli Jon Roth
Philippe Kienholz, Kristian Schultze
Curt Cress
Original Red Apple Orchestra
MiG-music
CD1: 46:31/CD2: 45:35
24.04.2020