Man staunt immer wieder darüber, wie viele verschollen geglaubte Aufnahmen bekannter früher Jazzmusiker sich insbesondere in jüngeren Jahren scheinbar aus dem Nichts ans Tageslicht befördern ließen. Neustes Beispiel: die vorliegende Platte, deren Entstehung fast 60 Jahre zurückliegt.
HASAAN IBN ALI war 1965 Mitte 30 und als Sideman von Ikonen wie Max Roach oder John Coltrane geläufig, sollte aber in späteren Jahren selbst zu einem angesehen Genre-Künstler werden. Der amerikanische Pianist spielte "Metaphysics" in jenem Herbst in den New Yorker Atlantic Studios ein und kann der anschließenden Endabmischung nicht beiwohnen, weil er wegen Drogenbesitzes ins Gefängnis muss.
So ähnlich wie speziell Thelonious Monk kultivierte Ibn Ali einen quasi "kantigen" Stil mit auf den ersten Hör unwirsch anmutendem Akkordspiel, als würde er ohne Gefühl auf die Tasten hämmern, doch seine vielen dissonanten Voicings sind methodisch durchdacht. Dazu passend durchsetzt die Combo die Stücke mit zahlreichen Breaks und rhythmischen Schlenkern, wobei ´Viceroy´ den Stolper-Modus schon im Intro zum guten Ton macht.
Konträr dazu steht im Zentrum des regulären Albums die schlicht wunderschöne Ballade ´Richard May Love Give Powell´, in der Bassist Art Davis nicht wie sonst phasenweise bewusst "out of key" spielt, um das harmonische Spektrum zu erweitern. Im Verbund mit Tenorsaxofonist Odeon Pope sorgt er auf diese Weise in den beiden fiebrigen Highlights - dem Titelstück und ´El Hasaan´ - für ein stark ausgeprägtes Free-Jazz-Flair.
Klingt in diese zwei Fällen praktisch der späte Coltrane an, verweist das mit elf Minuten Spielzeit epische ´True Train´ nicht nur hinsichtlich seines Titels auf den swingenden und groovenden Jungspund, der vor seinem Tod ´67 noch ungefähr zur selben Zeit die Veröffentlichung seines neben "A Love Supreme" wohl bedeutendsten Longplayers "Ascension" erlebte.
Ibn Alis Aufnahmen wurde unterdessen die Endveredlung vorenthalten und landeten in einem Archiv, wo sie 13 Jahre später verbrannten. Die aktuelle Aufbereitung ist einer gefundenen Kopie zu verdanken. drei kürzere Outtakes krönen den Release als Bonus-Dreingaben.
FAZIT: Besser spät als nie: Nun da "Metaphysics: The Lost Atlantic Album" im 21. Jahrhundert Premiere feiert, statt die goldenen Jahre des Jazz zur Zeit seiner Aufnahme zu bereichern, könnte das darauf enthaltene Material kaum zeitgemäßer klingen - eine nachträgliche Bestätigung der Qualitäten seines Schöpfers HASAAN IBN ALI. <img src="http://vg05.met.vgwort.de/na/0a6ed03eacc747af92d39506a3e36283" width="1" height="1" alt="">
Punkte: 12/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 20.04.2021
Art Davis
Hasaan Ibn Ali
Kalil Madi
Odean Pope (Tenorsaxofon)
Omnivore / Bertus
63:52
23.04.2021