LEHNEN geistern tatsächlich schon seit 2006 durch die musikalische Botanik Österreichs und haben mit „Negative Space“ ihr fünftes Album in der Pipeline. Wie der Titel vermuten lässt, versucht sich das Trio an der Vertonung der dunklen Seiten des Lebens, ja des allgemeinen Alltags. Das gelingt insofern, als dass sich jeder potenzielle Hörer mit dem Stoff identifizieren kann. Orientierungslosigkeit in der Masse, oder das Gefühl des Verloren-Seins im Trott des Alltags kennt jeder. Gerade in der aktuellen Zeit, in der das Leben komplett aus den gewohnten Bahnen geworfen wurde und wird, kann dieses Gefühl eine schier übermächtige Präsenz bekommen.
Wie sich das damit verbundene, innere Chaos anfühlt und anhören kann, zeigen Songs wie „Mute“ oder das sperrige Electro/Ambient-Versatzstück „Thirty One“. Immer hin- und hergerissen zwischen dem Gefühl völliger Entrückung, dem Versuch, das Dasein zu ertragen und dem Wunsch, dass sich doch alles zum Guten wenden möge, werden elektronische Kälte und pulsierende Beats von der zerbrechlich wirkenden Stimme umgarnt. Mal klingt es nach Verzweiflung. Mal hat es was von einer inneren Revolte gegen das Dasein als solches, aber auch gegen die Umstände, die sich jeder selbst schaffen kann, denen jeder aber auch unterworfen ist, sei es nun aufgrund gesellschaftlicher Strukturen oder willentlich von außen diktierter Regulativen.
„Take me somewhere far away, just to see how it feels“ singt Joel Boyd in „Playact“ und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Denn der allgegenwärtige Wille zur Realitätsflucht, egal ob individuell oder kollektiv, war wohl kaum deutlicher zu spüren als in den hinter uns liegenden zwei Jahren.
Ob LEHNEN damit gewissermaßen den Finger in die Wunde legen oder ob sie als Ventil oder kurzzeitiger Ausweg aus dem tagtäglichen Wirrwarr verstanden werden wollen, bzw. verstanden werden können, ist Sache des Hörers.
Aber wie singen sie im Titeltrack: „With no direction, courses undefined, how much time is left?“
Insofern könnte gerade diese Vertonung von persönlicher Ohnmacht als Ventil dafür dienen, sich aus ebenjener zu befreien.
Nichts ist grausamer als die eigenen Gedanken.
Im Umkehrschluss kann aber auch nichts so viel Hoffnung und Zuversicht schenken wie das eigene Denken. Insofern ist „Negative Space“ ein Album am Zeitgeist, aber auch ein Album, das genau diesem Zeitgeist mit Energie und letztendlich trotzig und stolz erhobenem Haupt entgegen tritt.
<iframe width="560" height="315" src="https://www.youtube.com/embed/bs6NcZq0mq0" title="YouTube video player" frameborder="0" allow="accelerometer; autoplay; clipboard-write; encrypted-media; gyroscope; picture-in-picture" allowfullscreen></iframe>
FAZIT: „Negative Space“ kann durchaus aufs Gemüt schlagen, es kann aber auch aufbauen, ja vielleicht will es das sogar. Damit haben sich LEHNEN eine Aufgabe gegeben, die weit über die Musik hinausgeht, die aber dank der Musik eine Stütze, eine individuelle Brücke hin zu einem positiven Moment sein kann. Und das kann doch nur gut sein.
Punkte: 11/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 04.12.2021
Stefan Sieder
Joel Boyd
Martin Konvicka, Joel Boyd
Joel Boyd, Matthew Prokop
Matthew Prokop
Noise Appeal Records
43:00
17.09.2021