Viel hätte nicht mehr gefehlt, um ein Vierteljahrhundert ohne LIQUID TENSION EXPERIMENT-Album vollzumachen. Das Projekt hatte Ende der 1990er einen Run und setzte mit seinen ersten beiden Platten Maßstäbe in Sachen Frickel-Prog, war aber insbesondere deshalb bedeutend, weil es im Grunde den Anstoß dafür gab, Keyboard-Maestro Jordan Rudess zu Dream Theater zu holen, deren Karriere er daraufhin maßgeblich auf die Sprünge half.
Mike Portnoy (Transatlantic, Sons of Apollo, damals Dream Theater), seine DT-Gefährten John Petrucci und Rudess sowie King-Crimson-Bassist respektive Chapman-Stick-Experte Tony Levin (auch Peter Gabriel) haben sich während des Corona-Lockdowns tatsächlich Gesundheitszeugnisse ausstellen lassen, um einander treffen und gemeinsam die erste neue Musik seit Ewigkeiten auszuhecken. Heraus kam mehr oder minder erwartbarer "state of the art"-Prog ohne Vocals, mit dem das Projekt immer noch - oder wieder - eines der geilsten Instrumental-Projekte ist.
Der Opener 'Hypersonic' steht in der wahnsinnigen Tradition von 'Paradigm Shift' und 'Acid Rain', den jeweils ersten Songs der zwei Vorgänger aus den Jahren 1998 und 1999 - höchst virtuos, rasant und dabei trotzdem äußerst inspiriert, was den melodischen Gehalt angeht; über Petruccis Qualitäten als Melodie-Schreiber braucht man nach etlichen Hits von Dream Theater wohl eher keine Worte mehr zu verlieren.
'Liquid Evolution' mit Levins hervorstechendem Fretless-Bass geht eindeutig in die Richtung seiner Experimental-Projekte, wobei man sich auch an die Werke von Trey Gunn und anderen Touch-Gitarristen erinnert fühlt. Chromatisch abwärts gerichteten Piano-Arpeggien, die für Jordan Rudess äußerst typisch sind, tauchen ebenso wiederholt auf wie Unisono-Achterbahnfahrten der Melodieinstrumente. In dem Zusammenhang klingt 'The Passage Of Time' nach spontan herausgehauenem Dream Theater-Ausschuss - nicht übel und nett bedrohlich, aber abgesehen vom konträr dazu sonnigen Ende eher unauffällig.
Bestechend allerdings hier wie anderswo: Jazzige Polyrhythmik im Verbund mit kraftvollem Metal-Drumming, so wie es außer Portnoy nur wenige beherrschen, nicht zu vergessen weite Melodiebögen während der Leadgitarren-Parts und ein paar nur beinahe klischiert wirkende neoklassische Passagen ('Rhapsody In Blue') und die Klavierballade 'Shades Of Hope', zu der man sich genauso wie während des poppig eleganten Fegers 'Beating The Odds' eine Gesangsstimme vorstellen könnte, runden ein erwartbar gutes Album ab, das vermutlich viel zu lange fällig war.
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"LTE3" wird von kurz eingestreuten Witz-Momenten in Frank Zappas Geist abgerundet - und das jüngste Meisterwerk des Trios steht wie fast abzusehen am Ende: die Beinahe-Viertelstunde 'Key To The Imagination', die als Klavierstück mit Soundtrack-Anmutung beginnt und sich dann zu fettem Prog Metal im Wechsel mit lyrisch singender Klampfe aufbauscht. Die Spannung, die LTE im Verlauf erzeugen, würde Komponisten von Orchestersuiten alle Ehre bereiten … wobei Jordan den meisten bestimmt noch etwas beibringen könnte.
Ausnahmemusiker eben, alle vier.
FAZIT: Willkommen zurück, LIQUID TENSION EXPERIMENT! Während "LTE3" nicht am in puncto Songwriting überragenden Debüt kratzt, sticht es dessen stark von Jams geprägten Nachfolger, auf dem John Petrucci als seinerzeit werdender Vater nur wenig beitrug, mit einigem Vorsprung aus. Für Instrumentalsport zugetane Menschen ist die Platte in diesem Jahr so oder so unerlässlich. <img src="http://vg04.met.vgwort.de/na/1b7e8dd2c1c44d44bd5de0b6cd571893" width="1" height="1" alt="">
Punkte: 12/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 07.04.2021
Tony Levin
John Petrucci
Jordan Rudess
Mike Portnoy
Inside Out / Sony
61:03
16.04.2021