Wenn MARILLION sich mit Freunden präsentieren, dann sind die Erwartungen hoch – und spätestens seit ihrer freundschaftlichen Verbandelung mit dem IN PRAISE OF FOLLY ENSEMBLE auf <a href="http://www.musikreviews.de/reviews/2019/Marillion/With-Friends-From-The-Orchestra/" target="_blank" rel="nofollow">dem 2016er-Album „With Friends From The Orchestra“</a>, auch klassischer Natur. Und ja, genau eine Auswahl dieser Freunde präsentiert sich auf dem opulenten, auch als 3-LP-Version vorhandenen Live-Album „With Friends At St. David's“, bei dem MARILLION gemeinsam mit mehreren Musikern des Ensembles, größtenteils Streicher, aber auch Hornisten und Flötisten, am 16. November 2019 in die Cardiffer St. David's Hall bittet. Und alle, die kamen, durften ein Konzert der Extraklasse erleben zu einer Zeit, als noch kein Mensch auch nur einen Gedanken an irgendwelche Viren verschwendete und nicht ahnen konnte, dass kurz darauf auch MARILLION als Live-Act für lange Zeit verstummen werden müssen.
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Auf „With Friends At St. David's“ beweisen MARILLION erneut, über welch fast hypnotisch anmutende Live-Qualitäten sie verfügen, besonders wenn sie sich mit klassischen Orchestermusikern einlassen. Von der ersten bis zur letzten Minute nimmt einen das pure Gänsehautgefühl gefangen und zieht einen in seinen Bann.
Eine fette Überraschung ist bereits die Auswahl der Songs. Wie immer bei MARILLION eine unberechenbare Größe, wobei die erste kleine Sensation gleich der fast 20 Minuten lange Album-Opener „Gaza“ ist, welcher beispielsweise nicht auf „With Friends From The Orchestra“ vertreten ist. Übrigens folgen diesem Longtrack mit „The New Kings“ (ebenfalls nicht auf besagtem Album) und „Ocean Clouds“ noch zwei weitere fast Zwanzigminuter. Neoprog trifft auf Klassik und vereint sich zu progressiver Neo-Klassik.
Mit „Seasons End“ gelingt der Band dann eine der schönsten Live-Aufnahmen aller Zeiten, denn hier stimmt einfach alles: die Einbeziehung von Streichern, Flöte und French Horn sowie die leicht floydianische Atmosphäre und einem Sänger auf dem Zenit seines Live-Schaffens. Man spürt allein beim Hören, dass h sich in seinem ganz eigenen kleinen Universum befindet, welches er erst verlässt, wenn der letzte Ton verklungen ist.
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Oder das großartige „Estonia“!
Hier erzählt h, bevor das progressive Epos angestimmt wird, die Geschichte darüber, wie es zu dem Song „Estonia“ über die gesunkene finnische Ostsee-Fähre mit 852 Toten kam. Das schwerste Schiffsunglück der Nachkriegszeit.
Gerade dieser Song bietet sich natürlich in seiner bedrückenden Ausstrahlung ideal dafür an, ihn mit den Streichern melodramatisch zu unterlegen. Ein echtes Highlight des rundum großartigen Konzerts, das im Grunde beweist, wie hervorragend sich die progressive Musik von MARILLION zusätzlich mit klassischen Musikern umsetzen und artrockig noch steigern lässt.
Eine der besten Entscheidungen aber ist, dieses Album nicht nur als CD oder auf BluRay bzw. DVD unters Fan-Volk zu werfen, sondern es auch auf's schwarze Vinyl-Gold in Form von gleich drei 180g-LP's zu pressen, die in einem Gatefold-Cover geschoben und jeweils in drei Foto-Innenhüllen (ganzseitige Fotoaufnahmen mit den Musikern und vom Konzert) versehen wurden. Denn wer auch immer behaupten mag, es gäbe keinen Unterschied zwischen dem digitalen und dem Vinyl-Klang, der ist nur noch nicht von dem schwarzgoldigen Vinyl-Virus infiziert worden und kennt wohl dieses faszinierende Retro-Gefühl nicht, das sich sofort breitmacht, wenn man vorsichtig die große schwarze Scheibe auf den Plattenteller legt und den Tonarm aufsetzt, wobei sich zugleich ein warmes Rauschen breitmacht bis der erste kristallklare Ton erklingt.
Genug in Erinnerung und Gegenwart geschwelgt.
„With Friends At St. David's“ ist erneut ein Album, das MARILLION als eine der besten Prog-Live-Bands der Gegenwart präsentiert, die anscheinend wie ein guter Wein immer mehr reifen, auch wenn sie schon längst die Spitzenqualität erreicht haben.
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FAZIT: Geht's eigentlich noch besser? MARILLION sind live unschlagbar, besonders wenn sie wie auf „With Friends At St. David's“ mit klassisch geschulten Streichern, Flötisten und Hornisten vom IN PRAISE OF FOLLY ENSEMBLE auftreten und ihre Prog-Epen mit zarter Klassik zu einem orchestral-progressiven Live-Meisterwerk verschmelzen wie auf diesem Vor-Corona-Konzertmitschnitt vom 16. November 2019, von dem besonders die 3-LP-Ausgabe auf 180 Gramm schwerem Vinyl jedem Freund dieser britischen Band ans Retro-Herz gelegt werden sollte. Nach diesem Album muss man MARILLION einfach lieben, zumindest wenn man die hohe Kunst richtig guten Art-Rocks zu schätzen weiß.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 25.05.2021
Pete Trewavas
Steve 'h' Hogarth
Steve Rothery
Mark Kelly
Ian Mosley
Mitglieder des In Praise Of Folly String Quartet
Racket Records/earMUSIC
131:39
28.05.2021