„Kid A“ von RADIOHEAD ist einer der größten Meilensteine der Musikgeschichte.
Punkt. Aus.
So könnte man das stehen lassen und sich alle weiteren Worte sparen.
Denn allein dieser eine erste Satz fasst alles zusammen, was zu dem im Jahr 2000 erschienenen RADIOHEAD-Album zu sagen ist, welches tatsächlich ein neues Musik-Jahrtausend einleitete, auch weil sich RADIOHEAD mit diesem Album nach dem grandiosen „OK Computer“ gänzlich neu erfanden.
Doch warum kommt gerade jetzt, gut 20 Jahre später, eine so gesehen x-te Review dazu?
Das hat zweierlei Grund.
Zum einen fiel mir auf, dass von RADIOHEAD unter unserer Seite zwar drei Alben durch Kollegen König – so muss man wirklich heißen, um diese königlichen Rock-Alben besprechen zu dürfen – besprochen worden sind, aber mit <a href="http://musikreviews.de/reviews/2009/Radiohead/OK-Computer/" target="_blank" rel="nofollow">„OK Computer“</a> chronologisch die letzte Besprechung erfolgte. Das drei Jahre später folgende und mir zugleich liebste Album der britischen Rock-Freigeister, die bei jedem Album für eine neue Überraschung gut waren, fehlt.
Allerdings hatte ich als <a href="http://www.babyblaue-seiten.de/index.php?content=reviewer&left=reviewer&top=reviews&reviewercont=62&reviewer=62" target="_blank" rel="nofollow">ehemaliger Redakteur</a> der <a href="http://www.babyblaue-seiten.de/index.php" target="_blank" rel="nofollow">Babyblauen Seiten (BBS)</a> bereits vor geraumer Zeit eine Kritik zu „Kid A“ geschrieben, ausgelöst durch einen Verriss, der damals dort noch zu finden war, und der nicht nur die Band angriff, sondern auch mich irgendwie verletzte, weswegen ich versuchte, die unglaubliche Wirkung von „Kid A“ auf mich zu beschreiben.
Okay, das sind eigentlich olle Kamellen...
Doch plötzlich flatterte zum Besprechen das Album eines Londoner Jazz-Pianisten bei uns ein, der ebenfalls RADIOHEAD und speziell dieses Album heiß und innig liebte, was ihn sogar so weit brachte, das komplette „Kid A“ unter dem Titel <a href="http://musikreviews.de/reviews/2021/Rick-Simpson/Everything-All-Of-The-Time-Kid-A-Revisited/" rel="nofollow">„Everything All Of The Time: Kid A Revisited“</a> auf seine ureigene Jazz-Art zu interpretieren.
Darum begann ich erneut noch einmal ganz tief in das „Kid A“-Universum einzutauchen, <a href="http://www.babyblaue-seiten.de/index.php?albumId=1781&content=review" target="_blank" rel="nofollow">meine Review für die BBS</a> hervorzukramen und sie leicht zu bearbeiten, um einerseits dieses fantastische Album auch unter unserer Seite zu verewigen und andererseits einen idealen Ansatz zum Verständnis des Jazz-Kid-A-Albums von RICK SIMPSON herzustellen.
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Hier ist sie nun – die Kritik zu „Kid A“ in ihrer überarbeiteten Form:
Mein Gott, (auch wenn ich an den nicht glaube - genauso wenig wie an die Allgemeingültigkeit von gewissen Kritiken, die sich mitunter wichtiger als die Musik selbst nehmen) - hier lässt eine Band nicht anno 2000 im Oldfieldschen Sinne die Totenglocken läuten, um sie uns dann als Millenniumsglöckchen zu präsentieren, sondern erhebt den Schlegel zu einer Glocke, die in dieser Art erst erfunden werden muss: die Post-Rock-Glocke, auf die dann Bands wie GODSPEED YOU! BLACK EMPEROR und all die anderen kanadischen Nachfolger aufspringen und die mit einem leichten Schlagbesen schon durch Kraftwerk eingeläutet wurde.
Das ist nicht normal, das ist verrückt - und das gehört vernichtet zwischen den Zahnrädern, die ineinander greifen, wenn man versucht, Schubladen zu finden, die noch gar nicht da sind.
Stattdessen baut hier eine Band 'nen komplett neuen Schrank, mit dem der Eine oder die Andere nicht klar kommt.
Obwohl – schon kurze Zeit später wird sich die Schublade 'New Art Rock' öffnen, die echt gut zu dieser kunstvollen Form progressiven Rock-Freigeists passt, der hiermit sein erstes Kind durch den musikalischen Geburtskanal drückt.
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RADIOHEAD kann sich das alles leisten und lächelt wohl nur über die Säue, die sich da an einem Baum reiben, der so erst noch gepflanzt werden muss.
Außerdem nennt man es auch gleich mal „Kid A“, also das erste Kind! Wie nur wird das zweite aussehen?
Gut, wir wissen es längst, es heißt „Amnesiac" und war ein Zwilling!
Die erste mystisch-überraschende Begegnung mit den "musikalisch-außerirdischen Radioköpfen" beginnt schon bei der Verpackung des Silberlings. Eigentlich ganz normal – in einem Plaste-Jewel-Case mit durchsichtigem Einleger.
Akzeptiert.
Doch da die Musik sehr neugierig macht - andere könnten es auch argwöhnisch nennen - untersucht man das "Beiwerk" (Booklet ... oder gibt's noch mehr?) genauer. Plötzlich erscheint es einem seltsam, dass nicht nur das Booklet mit mehrfach ausklappbaren Seiten und Butterbrot-Papier-Einlagen samt Bleistiftzeichnungen versehen wurde, sondern auch aus dem durchsichtigen Einleger einen der Schriftzug „Theater des Todes" anspringt.
Was soll denn das?
Einfach mal diesen Einleger entfernen ...
… und plötzlich hält man ein umfangreiches (eben verstecktes) 12-seitiges Heftchen in der Hand. Wieder mit Butterbrotpapier-Einlagen, aber statt der Bilder ganz viel Text. Verrückt? Verrückt!
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Leider gibt es dieses "Beiwerk" nicht in der RADIOHEAD-Box mit allen Studio-Alben bis "Hail To The Thief". Darum kommt man kaum daran vorbei, sich diese Scheibe auch in ihrer Ursprungsversion anzuschaffen.
„Kid A" selber ist ein Baby von völlig radiountauglichen Köpfen, die Musik als eine Kunstform betrachten, der man sich öffnet oder verschließt, die aber nicht ver-, sondern ausschließlich (gerecht) beurteilt werden sollte. Lasst es mich einfach als „musikalischen Expressionismus" bezeichnen.
Man muss tiefer in „Kid A" eindringen, weil es einen eigenen kindlichen Kopf hat, der eben nicht nach der Pfeife von liberal-banal eingestellten Eltern tanzen will. Darum wird hier experimentiert: mit Geräuschen, mit Musikstilen (Rock, Prog, Pop, Electronic, Jazz usw.) und Gesang, der jedes noch so seltsame Lebensgefühl ausdrücken kann und definitiv hervorragend (aber keinesfalls nervend) ist.
„Kid A" - das ist ein neues musikalisches Lebensgefühl, auf das man sich nicht einlassen muss, das man aber auch nicht als irgendwelchen unausgegorenen Schrott verteufeln darf, den man dann ein paar Jahre später als die wahre Offenbarung anpreist. Voreingenommene Urteile sind da manchmal nicht so hilfreich, genauso wenig wie die Warnung, erst einmal in ein Album reinzuhören, das von „den typischen, früheren" RADIOHEAD kommt. Klang nicht eigentlich jedes Album dieser begnadeten Band immer etwas (oder manchmal sogar völlig) anders?
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FAZIT: „Kid A“ ist tatsächlich das erste Kind einer musikalischen Institution, die jeglichen marktwirtschaftlichen und kunstkontraproduktiven (Ein geiles Wort!) Mechanismen den erhobenen Mittelfinger - oder aus kindlicher Sicht den neuen Schnuller zeigt!
Großartig - neu - unangepasst - und garantiert anbiederungsfrei!
Eben RADIOHEAD!
Erschienen auf www.musikreviews.de am 01.08.2021
Colin Greenwood
Thom Yorke, Ed O'Brien
Thom Yorke, Johnny Greenwood, Ed O'Brien
Johnny Greenwood, Thom Yorke
Phil Selway
EMI
49:46
02.10.2000