<b>„Mein Musik-Interesse begann mit elektronischer Musik, dann dem Jazz und schließlich RADIOHEAD. Alle drei Richtungen sind intensive Liebesbeziehungen.“</b> (Rick Simpson)
Wer liebt RADIOHEAD?
Wer liebt deren <a href="http://musikreviews.de/reviews/2021/Radiohead/Kid-A/" rel="nofollow">„Kid A“</a>?
Beides trifft nicht nur auf den Kritiker, der diese radiokopflastigen Zeilen verfasst, zu, sondern auch für den begnadeten Jazz-Pianisten RICK SIMPSON, der uns auf eine völlig neue Reise in das „Kid A“-Universum mitnimmt. Eine Reise auf den Jazz-Planeten, um mit sehr einfallsreichen und frei fließenden Arrangements rund um eins der bewegendsten RADIOHEAD-Alben ein völlig neues Hörerlebnis zu kreieren, mit dem altgestandene Rock-Affinos oder Jazz-Nicht-Möger wahrscheinlich ihre Probleme haben werden. Aber alle, die genau wie die als Vorbild herhaltende Band so in etwa offen für alles sind, werden sich in diese ungewöhnliche „Kid A“-Interpretation verlieben. Denn sie ist genauso unglaublich und ungewöhnlich und experimentell wie das Album aus dem Jahr 2000 selbst.
Als erstes sollte man jedenfalls wissen, dass die Jazz-Cover-Versionen sehr deutlich von den Originalen abweichen, auch wenn Simpson alles dafür tut, dass in puncto Album-Gestaltung und Song-Anordnung die Parallelen zum Original unübersehbar sind. Und natürlich fehlt bei einem puren Jazz-Album voller progressiver Momente, die aber allesamt nur auf Piano, Schlagzeug, Kontrabass, Saxofonen und (einmal auch auf) Geige basieren, die Stimme von THOM YORKE, welche maßgeblich den Wiedererkennungswert von RADIOHEAD ausmacht. Aber es sind eben auch die Vielzahl der komplexen Ideen und gewagten Experimente – und die findet man massenhaft auf „Everything All Of The Time: Kid A Revisited“.
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Aus Anlass des 20. Geburtstags von „Kid A“ wagte sich RICK SIMPSON an dieses Album heran. Doch er hat sich dafür nicht etwa tage-, wochen- und monatelang mit Band in einem Studio verbarrikadiert und akribisch jedes Detail und jede Partitur ausgefeilt, sondern das gesamte Album mit den besagten Musikern innerhalb eines Nachmittags am 30. Januar 2020 aufgenommen, wozu er selber beeindruckt feststellt: „Ich denke, der Zeitdruck hat zu den Auftritten beigetragen. Es ist wirklich druckvoll und auf den Punkt gebracht, aber es passiert auch viel – es fängt die Energie gut ein.“
Basierend auf dem das Album durchgängig umrahmenden Piano-Spiel steuern der grundierende Bass und das komplexe Schlagzeugspiel permanent stimmungsschwankende, atmosphärische Momente bei, während die Saxofone oder die Geige oftmals 'die Stimme' zu übernehmen scheinen. So baut sich der Titelsong über ein ruhiges Piano-Intro zu einem melodramatischen Monster auf, das im folgenden „The National Anthem“ durch eine fette Bass-Einlage zum Schweigen gebracht wird, während ein Bariton-Saxofon auf „Idioteque“ dieses erneut zu entfesseln scheint. Dazwischen liegen zugleich mit „Treefingers“ oder „In Limbo“ entspannte Jazz-Momente, denen auf „Morning Bell“ noch ein Schlagzeug-Solo folgt, zu dem Simpson feststellt: „Will ist so ein kompletter Musiker: Er versteht in jeder Situation genau das Richtige. Er ist ein kleiner Dämon.“
Und nachdem sich dieser 'kleine Dämon' so intensiv an den Fellen gemeldet hat, ist es Zeit, mit „Motion Picture Soundtrack“ ein ideales Ende zu finden. In diesem Falle ein ruhiges, fast als eine Ballade daherkommendes, sehr harmonisches Stück, das uns lächelnd zuwinkt und das schon zwanzig Jahre alte, ewig jung gebliebene „Kid A“ in seinem wunderschönen Jazz-Körbchen wieder zur Ruhe bettet. So schön und zugleich völlig anders kann Jazz klingen, wenn er sich einer der besten Bands dieses Universums annimmt.
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FAZIT: Welch mutige Idee eines Jazz-Pianisten, der von der elektronischen Musik zum Jazz kam und dabei noch dazu RADIOHEAD als seine ganz große Liebe für sich entdeckte. Mit „Everything All Of The Time: Kid A Revisited“ legt RICK SIMPSON ein Meisterwerk der Jazz-Verfremdung eines der ungewöhnlichsten Alben der Rockmusik-Geschichte vor, das sich mal eng an den Originalmelodien orientiert, ganz oft aber frei und kompromisslos ausbricht und damit RADIOHEADs „Kid A“ eine gänzlich ungeahnte, ganz neue Jazz-Dimension verleiht.
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 01.08.2021
Dave Whitford
Rick Simpson
Will Glaser
James Allsopp (Bariton Saxofon), Tori Freestone (Tenor Saxofon, Violine)
Whirlwind Recordings
42:44
11.06.2021