Zurück

Reviews

Salvador Sobral: BPM

Stil: Singer/Songwriter, Dream-Jazz und Art-Pop

Cover: Salvador Sobral: BPM

<b>„Die Herangehensweise an dieses neue Album fühlt sich wie das Offenlegen meiner kompletten Aorta an.“</b> (Salvador Vilar Braamcamp Sobral)

Bei dem charismatischen portugiesischen Sänger SALVADOR SOBRAL zwingt sich dem Kritiker unausweichlich eine Erinnerung auf – und zwar die an den 62. Eurovision Song Contest am 13. Mai 2017 in Kiew. Schließlich bemerkte man bis dahin schon nach und nach, dass diese europäische Musikveranstaltung immer mehr an Klasse gewann und keine plumpe Schlager- und Pop-Veranstaltung mehr war. Außerdem wurde den deutschen Teilnehmern mit ihren permanenten Ganz-weit-hinten-Platzierungen dort immer wieder bewiesen, wo sie und die traurige deutsche Musikkultur europaweit standen. Daraus gelernt haben sie bis heute noch nichts – aber das ist ja eine gänzlich andere Geschichte.

Jedenfalls trat bei dem Kiewer ESC mit SALVADOR Vilar Braamcamp SOBRAL als Vertreter Portugals ein Sänger auf, der durch seine unglaublich ungewöhnliche, extrem exaltierte und gänzlich hypnotische Ausstrahlung, die ihn in dem Moment, als er zu singen begann, in ein gänzlich anderes Universum zu beamen schien, ein noch nichtmal 30-jähriger Musiker auf, der mit „Amer Pelos Dois“ („Liebe für uns zwei“) eine von seiner Schwester Luísa verfasste Jazz-Pop-Hymne, ausschließlich getragen von Klavier und Streichern, vortrug, die eindeutig nicht von dieser Welt zu sein schien.
Und die Gedanken überschlugen sich:
Was wohl, wenn ein dermaßen 'weltfremder' Song diesen ESC gewinnen würde?
Hätte der sich damit nicht endlich emanzipiert von all der Pop-Scheiße und Mainstream-Massenware und diesen „Ein bisschen Frieden“- oder „Ich will Spaß“-Botschaften?
Na ja, ein abwegiger Gedanke eben – denn so reif konnten der ESC und die Musikmassen, welche per Jury und Televoting dort mitwählten, einfach nicht sein. Außerdem hatte ein Vertreter aus Portugal noch nie den ESC gewonnen und den Wettbewerb damit in sein Land geholt – im Grunde standen die Chancen rein statistisch betrachtet bei Null. Alles Andere wäre ein Wunder…
...doch das Wunder trat ein!

<iframe width="560" height="315" src="https://www.youtube.com/embed/z5VUti3kVIo" title="YouTube video player" frameborder="0" allow="accelerometer; autoplay; clipboard-write; encrypted-media; gyroscope; picture-in-picture" allowfullscreen></iframe>

Mit 758 Punkten, der höchsten je bei einem ESC erreichten Punktzahl gewann Sobral den größten europäischen Musikwettbewerb und nutzt seine kurze Dankesrede vor über 180 Millionen Zuschauern sogar noch dazu, diesen Sieg zugleich zu einer Kampfansage gegen die schreckliche Fast-Food-Musikkultur, die nicht aus dem Herzen kommt, zu erklären: „Musik ist kein Feuerwerk, Musik ist ein Gefühl“!
Echte Musik, die so oder ähnlich wie die seine klingt, sei ein Gegenstück zu all den Plastik-Pop-Nummern, welche die Radio- und Fernsehstationen fluten. Der singende Idealist Sobral sagt also der großen Pop-Müll-Industrie den kleinen Sängerkrieg an, den er leider nicht gewinnen konnte – aber er setzte auf jeden Fall ein 180millionenfaches unüberhörbares Zeichen.

Erschütternd aber waren nur kurz nach diesem unglaublichen Sieg die folgenden Nachrichten, die im Falle SALVADOR SOBRAL auf ein weiteres, viel wichtigeres, überlebensnotwendiges Wunder hoffen lassen mussten. Sobral erkrankte schwer, sein Herz ließ ihn im Stich – es wollte einfach nicht mehr. Vielleicht hatte es zu sehr für die Musik schlagen müssen…

Wegen bereits auftretender Herzrhythmusstörungen konnte Sobral beim ESC nicht an den Proben teilnehmen und im ersten Halbfinale des Vorentscheids übernahm seine Schwester für ihn den Gesangspart. Und es wurde noch viel schlimmer, sodass der frisch gekürte ESC-Sieger Sobral sich im September 2017 dazu gezwungen sah, die folgende Worte an seine Fans zu richten: „Es ist für niemanden mehr ein Geheimnis, dass ich eine schwache Gesundheit habe. Ich habe ein Problem. Leider ist die Zeit gekommen, meinen Körper der Wissenschaft zu übergeben und dadurch mein Konzertleben und insgesamt die Musik aufzugeben.“
Sein Leben hing also am Seidenen Faden und nur ein Spenderherz konnte ihn noch retten. Im Dezember 2017 erhielt Sobral in Lissabon glücklicherweise genau dieses und nach verschiedenen Komplikationen und einem Nierenversagen schlug es dann doch endlich im richtigen Takt seine regelmäßigen <b>B</b>eats <b>P</b>er <b>M</b>inute (BPM) weiter. Jeder Herzschlag eine Note – genau wie es SALVADOR SOBRAL sich so sehr wünschte. Nun also kam seine Musik in altgewohnter Art von einem neuen Herzen.

Mit „BPM“ dürfen wir als Musikliebhaber daran teilhaben, wie die „echte Musik“ im sobralschen Sinne und mit sobralscher Stimme klingt, die noch dazu den wohl wichtigsten Lebensabschnitt seines gut 30-jährigen Daseins prägte: „Ich treffe etliche Entscheidungen für unterschiedliche Lebensbereiche während meiner schlaflosen Nächte. Ich nenne den Zustand während solcher Nächte gerne PI (Produktive Insomnie). Der Titel meines neuen Albums resultiert aus diesem PI-Zustand. Nachdem ich meine Musik und mein Leben einmal mehr reflektiert hatte, kam ich zu dem Schluss, dass das stärkste verbindende Element zwischen der Musik und dem Leben die ‚Beats per minute‘ (‚BPM‘) sind. Sie lassen uns leben, sie bestimmen den Herzschlag, und sie geben der Musik ihre Pulse, sie zeichnen Musik lebendig. Ich werde nie meine Zeit im Krankenhaus vergessen: Ich durchlief eine Menge Elektrokardiogramm-Untersuchungen, und während einer heikleren Phase meines Krankenhausaufenthalts hing ein Monitor neben meinem Bett, der meine ‚BPM‘ plastisch darstellte. Seltsamerweise schuf dieser Anblick eine Art Vertrautheit, denn ‚BPM‘ waren mir durch die Musik bestens bekannt. Und so beschloss ich während dieser schlaflosen Nacht, das Album ‚BPM‘ zu nennen. Danach schlief ich friedlich ein. Zumindest in dieser einen Nacht.“

Ja, „BPM“ klingt so wunderbar und faszinierend wie die gefühlvolle Absicht hinter dem Album und vereint zarten Jazz und kunstvollen Pop sowie zu Herzen gehende, portugiesisch und englisch gesungene, auf der LP-Innenhülle nachlesbare, Texte miteinander zu einem weltübergreifenden (Überlebens-)Sound, der bis heute (und leider vorerst wohl auch in Zukunft) seinesgleichen sucht. „BPM“ ist Sobrals musikalisches Lebenselixier geworden.

<iframe width="560" height="315" src="https://www.youtube.com/embed/83wEp1lR8mI" title="YouTube video player" frameborder="0" allow="accelerometer; autoplay; clipboard-write; encrypted-media; gyroscope; picture-in-picture" allowfullscreen></iframe>

Eigentlich müsste man jeden der 13 Songs dieser LP, der auch eine CD mit allen Stücken beigelegt ist, gesondert erwähnen. Doch selbst so eine Aufzählung könnte der Faszination hinter diesem 'Herzschlag'-Album nicht gerecht werden, das neben elf muttersprachlichen zugleich zwei englischsprachige Songs enthält, welche einem auch von den Texten her einen Schauer über den Rücken jagen, wenn Sobral beispielsweise in „Paint The Town“ solche Zeilen wie: „What took so long to build / Goes down in seconds“, singt.

Oder wenn „Só Eu Sei“ ganz deutliche Ähnlichkeiten zu seinem ESC-Sieger-Titel „Amer Pelos Dois“ aufweist und von der ersten Note an fasziniert. Sicher beabsichtigt, aber darum auch nur mit einer Minute und zwölf Sekunden ganz kurz gehalten. Doch auch diese kurze Zeit genügt einem Sobral, um tiefe Gefühle beim Hörer auszulösen.

„Aplauso Dentro“ wiederum ist ein faszinierendes Bossa-Nova-Duett mit MARGARIDA CAMPELO, das wie eine Neuausgabe von GETZ/GILBERTO mit sofortiger Sucht-Garantie klingt.

Und das die LP-A-Seite abschließende „Sangue Do Meu Sangue“ besticht als Piano-Ballade, die Sobral in den unterschiedlichsten Tonlagen mal voluminös und dann wiederum extrem fragil vorträgt und sich dabei in Höhen erhebt, die kaum vorstellbar erscheinen. Überraschend entwickelt sich der Song dann sogar noch zu einem kurzen Rock-Opus, um dann klimpernd wie ein Frühlingsregen, der zärtlich auf die Piano-Tasten fällt, auszuklingen.

<iframe width="560" height="315" src="https://www.youtube.com/embed/MEzBHPeM2lg" title="YouTube video player" frameborder="0" allow="accelerometer; autoplay; clipboard-write; encrypted-media; gyroscope; picture-in-picture" allowfullscreen></iframe>

FAZIT: Eines der wundervollsten Alben der Musikgeschichte, dessen Entstehung gleich mehrere Wunder voraussetzte, welche tatsächlich alle eintraten. Der portugiesische ESC-Gewinner des Jahres 2017 SALVADOR SOBRAL, der mit dem schönsten und ungewöhnlichsten Song der ESC-Geschichte den Wettbewerb endgültig mit seiner Jazz-Pop-Hymne in portugiesischer Sprache revolutionierte und kurz danach eine Herztransplantation überstehen musste, veröffentlicht mit „BMP“ ein sehr intimes Album, dessen Titel sich auf seine Krankenhauserfahrungen nach der Herztransplantation bezieht und in Verbindung mit der musikalischen Rhythmus-Einheit setzt, um beides miteinander zu vereinen. Noch dazu ist der Vinyl-Sound eine wahre Offenbarung. Wortwörtlich Musik vom Musiker-Herzen für die Zuhörer-Herzen. So wird Sobrals musikalisches Lebenselixier zu unserem eigenen.

Punkte: 14/15

Erschienen auf www.musikreviews.de am 14.07.2021

Tracklist

  1. <b>Seite A:</b>
  2. Mar De Memórias
  3. Fui Ver Meu Amor
  4. Se De Mim Precisarem
  5. That Old Waltz
  6. Medo De Estimação
  7. Sangue Do Meu Sangue
  8. <b>Seite B:</b>
  9. Paint The Town
  10. Páginas Soltas
  11. Canción Vieja
  12. Só Eu Sei
  13. Sem Voz
  14. Aplauso Dentro (feat. Margarida Campelo)
  15. Bom Vento

Besetzung

  • Bass

    André Rosinha

  • Gesang

    Salvador Sobral

  • Gitarre

    André Santos

  • Keys

    Abe Rábade, Leo Aldrey, Salvador Sobral

  • Schlagzeug

    Bruno Pedroso

Sonstiges

  • Label

    Warner Music

  • Spieldauer

    47:39

  • Erscheinungsdatum

    28.05.2021

© Musikreviews.de