Oha, ich höre da schon wieder einige Rufer in der Rockmusik-Wüste: „Was soll'n das? Dass ihr sowas bei euch besprecht!“
Und wenn diese Rufer vor ihrer Stirn auch noch das Brett namens 'Intoleranz' tragen, dann kann man gegen diese Vorurteile nichts machen, geschweige denn sie entkräften.
Für alle anderen, musikalisch ewig neugierig Gebliebenen aber gilt, dass wir als eine Seite, die ehemals unter dem Namen 'Idioglossia' mit dem eindeutigen Schwerpunkt auf 'Metal, Progressive und Rock' begann uns zur Musikreviews.de entwickelten und das Wort MUSIK dabei extrem ernst nahmen, anstatt es in irgendwelche Schubladen zu stopfen. So blieben wir unseren Anfängen zwar treu – was man noch immer an unserem Logo sieht – erschlossen uns die Welt der Musik aber nach und nach in ihrer Vielfalt und Facettenreichtum.
Das Wichtigste daran ist, dass das, worüber wir schreiben, aus unserer Sicht auch empfehlenswert ist oder manchmal auch so verdammenswert, dass davor gewarnt werden muss.
Nach solch einer Einleitung muss nunmehr auch etwas besonders Empfehlenswertes folgen, das aus musikalischer Sicht einen speziellen, recht ungewöhnlichen Charakter besitzt, womit wir bei der 34 CD's umfassenden Box „Josquin & The Franco-Flemish School“ wären. Wobei es doch neben der spannenden Musik der Renaissance, die wir eigentlich schon darum alle entdecken oder kennen sollten, weil gerade die großen Freunde der progressiven (Rock-)Musik sicher wissen, dass ihre Keyboard-Helden, wie RICK WAKEMAN von YES, KEITH EMERSON von ELP, TONY BANKS von GENESIS, GARY BROOKER von PROCOL HARUM oder der japanische Electronic-Guru TOMITA und natürlich ganz besonders die atemberaubende 70er-Jahre-Art-Folk-Band RENAISSANCE, die sich sogar nach dieser Kunst-Ära benannte, allesamt diese Musik ebenfalls liebten und vieles davon mit in ihre eigenen Kompositionen einfließen ließen.
Alle Aufnahmen, für die man, sollte man sie hintereinanderweg hören, anderthalb Tage einplanen müsste, stammen ausschließlich aus den Jahren 1968 bis 2000. Komisch, denn auch in den über 20 Nachmillennium-Jahren entstanden viele 'moderne' Aufnahmen aus diesem Renaissance-Umfeld, die sehr hochwertig sind. Mitunter deutlich hochwertiger als einiges von dem, was es in der Box zu entdecken gibt.
Besonders seltsam aber erscheint, dass deutlich zu wenig JOSQUIN DES PREZ (1440-1521) in der Box enthalten ist. Denn schließlich war der Anlass dieser Veröffentlichung der 500. Todestag Josquins am 27. August 2021. Nur drei der insgesamt 18 Messen von ihm zu berücksichtigen, rechtfertigt eigentlich den so fett auf der Box stehenden Namen kaum. Also, sehr viel Franko-flämische Schule und zu wenig vom Jubilar.
Vielleicht liegt der Grund ja auch darin, dass innerhalb der Franko-flämischen Schule insgesamt drei Generationen unterschieden werden, die mit Giles Binchois (ca. 1400-1460) sowie Guillaume Dufay (1400-1474) beginnen, sich in der zweiten Generation mit Johannes Ockeghem (ca. 1420-1497) fortsetzen und erst mit der dritten, in der Josquin des Prez (1440-1521) als führender Vertreter gehandelt wird, abschließt.
Dafür findet man aber auf den insgesamt 34 CD's zahlreiche Erstveröffentlichungen dieser Musik aus dem 15. und 16. Jahrhundert, die sehr deutlich – auch von den mal choral oder solistisch gesungenen Texten – einerseits von der antiken Rückbesinnung und andererseits vom Humanismus geprägt waren, bei dem der Mensch als die Krönung der göttlichen Schöpfung, welcher zudem freigeistige, intelligente Kunst hervorbrachte, empfunden wurde. Ein besonderer Typus waren hierbei die mehrstimmigen Lieder, welchen man ausgiebig im Rahmen der Box folgen kann, genauso wie einer Vielzahl sakraler Aufnahmen oder weltlicher Lieder mit französischen, italienischen oder lateinischen Texten. Dabei konnten die Stimmen beliebig gedoppelt oder durch Instrumente ersetzt werden.
Absolutes Highlight der Box sind die Aufnahmen vom THE HILLIARD ENSEMBLE, das in den 80er-Jahren extrem angesagt war, und auf mehreren CD's mit vielen beeindruckenden Stücken – besonders der zweiten Phase rund um Ockeghem – vertreten ist. Ähnlich häufig findet man auch das ENSEMBLE GILLES BINCHOIS und THE EARLY MUSIC CONSORT OF LONDON in der Box wieder. Natürlich gibt es auch jede Menge weniger bekannte Künstler zu entdecken. Im Grunde ist für jeden Geschmack etwas dabei und die Vielfalt riesig.
Ähnlich beeindruckend wie das riesige Renaissance-Musik-Spektakel, dem man sich stunden- und tagelang hingeben kann, sind auch die zwar spartanisch einfachen Papphüllen, in denen die CD's stecken, welche aber alle mit einem anderen Motiv aus den Kunstwerken der Renaissance, wobei man sehr oft Bildausschnitte wählte, gestaltet wurden. So bekommt man neben den musikalischen Zeitzeugen auch die malerischen Bildnisse dieser Zeit anschaulich vor Augen geführt.
Vollendet wird die 37-CD-Box „Josquin & The Franco-Flemish School“ mit einem 28-seitigen Booklet, in dem in drei Sprachen – natürlich auch in Deutsch – ausgiebig die Zeit und die Franko-flämische Musik beleuchtet wird. Natürlich liest sich das alles ein wenig wie ein Lehrbuchtext, aber die Informationen sind besonders zum Verständnis der Musik, die sich dann jeder ja auf seine ganz eigene Art erschließen darf, durchaus hilfreich. Also vor dem Hören ist empfehlenswert, das Booklet von Seite 20 bis 27 intensiv zu lesen. Am Ende entdeckt man dabei sogar noch ein Glossar, in dem die Begriffe 'Ballade', 'Cantus', 'Isorhythmie', 'Madrigal', 'Prolation', 'Hexachordische Solmisation', 'Tempus' und 'Villanella' geklärt werden.
Eine feine Sache für alle, die die Musik der Renaissance mögen oder einfach nur kennenlernen wollen, weil auch auf ihr so viel von dem basiert, was wir heutzutage wie selbstverständlich in der modernen Musik von Pop bis Prog, Folk bis Klassik zu hören bekommen. Übrigens sind fast alle CD's dazu geeignet, einen entspannten Tag zu beginnen. Das können auch meine beiden Hunde bestätigen, die beim Schreiben meiner Reviews oft neben mir auf dem Sofa liegen und immer, wenn ich die metallischen oder harten progressiven Alben bespreche, nach einer gewissen Zeit verschwinden. Bei dieser Box jedenfalls sind sie alle 37 CD's und über 35 Stunden lang neben mir liegen geblieben – und machten einen echt entspannten Eindruck. Musik, die verbindet, aber nur meine Hunde einschläfert…
FAZIT: Aus Anlass des 500. Todestages von Josquin des Préz erschien diese gigantisch zu nennende Box mit 34 CD's, welche umfangreich das Schaffen der Franko-flämischen Schule im Großen, das von Josquin des Préz im Kleineren und am Ende der Musik der Renaissance im Ganzen umreißt. Alle Aufnahmen stammen aus den Jahren 1968 bis 2000 und umfassen so namhafte Musiker wie THE HILLIARD ENSEMBLE, das ENSEMBLE GILLES BINCHOIS sowie THE EARLY MUSIC CONSORT OF LONDON und viele mehr. Vervollkommnet wird die Box durch ein umfangreiches Booklet, das diese musikalische Bewegung der Renaissance auch in deutscher Sprache genauer beleuchtet sowie einem Pappschuber zu jeder CD, der ein Kunstwerk bzw. Auszüge daraus als Cover-Motiv enthält.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 08.10.2021
Warner Classics
etwa 35 Stunden
09.07.2021