Mit ihrem jüngsten Album spielten sich WHITECHAPEL endgültig von allen Konventionen der Deathcore-Sparte frei, in die sie nie völlig zu Recht gezwängt wurden, und der Nachfolger von "The Valley" (2019) lässt die Gruppe aus Knoxville im US-Bundesstaat Tennessee nun in eine eigene Liga aufsteigen - auch weil er thematisch auf Bisherigem aufbaut und einmal mehr von Seelenstripper Phil Bozemans eindringlicher Lyrik beziehungsweise Performance lebt.
Darüber hinaus bleibt die dreifache Gitarrenbreitseite der Band einer ihrer Hauptanziehungspunkte, wobei Hauptsongwriter Alex Wade mehrere künftige Live-Standards aus dem flotten Handgelenk gepurzelt sind. Fronter Bozeman, der zu einem charismatischen Sänger gereift ist (höre insbesondere den verschachtelten Opener ´I Will Find You´, die - jawohl, ganz recht - Power-Ballade ´History Is Silent´ und das richtiggehend ergreifende Titelstück zum Schluss) nutzt unterdessen das Motiv der (genetischen) Verwandschaft, um sein nur halb fiktives Alter Ego durch eine Hölle aus Sippenhaft, Missbrauch und posttraumatischen Belastungsstörungen zu jagen. Emo? Nicht im Geringsten.
Die Musik der Band - Riff-orientierter, aber wendungsreicher und an genau den richtigen Stellen melodisch veredelter Death Metal mit lediglich leiser Hardcore-Note - haut zu kräftig auf den Putz, als dass man ihre Gefühlsbetontheit als bloße Masche verdächtigen würde. Der vermehrte Einsatz unverzerrter Parts verleiht dem neuen Material eine gewisse Post-Rock-Affinität, die sich auch mit auf stetige dramatische Steigerung ausgerichteten Arrangements deckt.
Die Thrash-Harke ´Lost Boy´ geht noch am weitesten in die "alte" stilstische Richtung der Gruppe, und die programmatischen Slo-Mo-Breakdowns respektive Black-Metal-Anleihen à la Carnifex sind auch noch nicht völlig passe (siehe ´A Bloodsoaked Symphony´), doch die vielen lässig rockenden Momente auf "Kin" stehen WHITECHAPEL ausgezeichnet und dürften einen langfristigen Trend hin zu einem noch offeneren Sound andeuten.
FAZIT: "Kin" könnte für WHITECHAPELs weitere Evolution entscheidend sein, denn die Band scheint auf dieser Platte mehrere mögliche Wege anzudenken, ohne sich konkret festzulegen, und vernachlässigt dabei zu keiner Zeit, dass ihre Fans (und wohl auch sie selbst) prägnante Songs hören möchten. So vereinen sich Anspruch und Dienstleistung am "Kunden" wieder zu einem Glücksfall von einem Album. <img src="http://vg06.met.vgwort.de/na/04ce2fb9f098418991d1face6816362e" width="1" height="1" alt="">
Punkte: 12/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 22.10.2021
Gabe Crisp
Phil Bozeman
Ben Savage, Alex Wade, Zach Householder
Alex Rüdinger
Metal Blade / Sony
47:49
29.10.2021