Eigentlich ließe sich das dritte Album der kanadischen Songwriterin RUBY McKINNON a.k.a. FLOWER FACE mit Stichworten wie „Dreampop“, „Whisper-Folk“ oder „Bedroom-Pop“ abhandeln (und schnitte dabei gar nicht schlecht ab) – aber irgendwie würde das der Sache keineswegs gerecht. Denn in irgendwelche Schemata lässt sich die Musik von FLOWER FACE einfach nicht einsortieren.
Zum Einen geht es der Musikerin musikalisch offensichtlich nicht um irgendwelche stilistischen Überlegungen. Eher schon darum, den Hörer mit zerbrechlichem Mädchenfolk in Sicherheit zu wiegen, nur um dann am Ende von „The Shark In Your Waters“ mit einem Punk-rockigen Psychedelia-Rausschmeißer aufzurütteln.
<iframe width="560" height="315" src="https://www.youtube.com/embed/1iW5HkfJ0T8" title="YouTube video player" frameborder="0" allow="accelerometer; autoplay; clipboard-write; encrypted-media; gyroscope; picture-in-picture" allowfullscreen></iframe>
Und dann bieten ihre Texte eine lyrische Tiefe und poetische Reife, die an die diesbezügliche Sensibilität ihres großen Landsmann LEONARD COHEN erinnert (vielleicht minus verquaster spiritueller Referenzen). Dass Ruby McKinnon – die zum Zeitpunkt der Aufnahmen gerade ein Mal Anfang 20 war – nun ein erstaunlich altersweises Album vorlegt, welches eben diesem Alter schlicht spottet, hat damit zu tun, dass sie einfach schon mehr erlebt hat als andere in ihrem Alter. Einerseits liegt dies nicht nur daran, dass sie bereits als Kind begann, Songs zu komponieren, sondern dass sie mit 17 eine Krebserkrankung durchleben musste und erst im Anschluss ernsthaft daran ging, ihre Geschichte im Songformat zu erzählen; aber nicht, um im Selbstmitleid zu versinken, sondern um auf diese Weise zu einem neuen Ego zu finden.
<iframe width="560" height="315" src="https://www.youtube.com/embed/30I3FPr0R2s" title="YouTube video player" frameborder="0" allow="accelerometer; autoplay; clipboard-write; encrypted-media; gyroscope; picture-in-picture" allowfullscreen></iframe>
FLOWER FACEs Selbstfindungs-Songs funktionieren demzufolge auf wesentlich mehr Ebenen als es klassische Reflexionen Gleichaltriger tun. Die im Titel des Albums besungenen Haie im Wasser sind in diesem Sinne jene Umstände, mit denen sich die Zwanzigjährige auf der Suche nach ihrer Identität konfrontiert sah und die sie oft genug in eine Opferrolle zu pressen drohte, für die sie sich aber nicht auserkoren sah.
Kaum zu glauben, dass hierbei (weitestgehend) sanftmütige, friedfertige, melancholische Balladen und versöhnlich/harmonische Popsongs entstanden. Auch wenn es ihr nicht darum geht, als 'Poster-Child' für irgendetwas zu gelten: Die Begegnung mit dem Tod verleiht ihren Songs eine Tiefe, welche sie ansonsten zweifelsohne kaum zum Ausdruck hätte bringen können.
<iframe width="560" height="315" src="https://www.youtube.com/embed/gDAoa3zIJw8" title="YouTube video player" frameborder="0" allow="accelerometer; autoplay; clipboard-write; encrypted-media; gyroscope; picture-in-picture" allowfullscreen></iframe>
FAZIT: Bereits auf ihrem letzten Album „Baby Teeth“ (das ein Jahr nach ihrer Krebserkrankung entstand), nahm sich RUBY McKINNON als FLOWER FACE der Neupositionierung ihres Ichs an – bezog sich dabei allerdings mehr auf Äußerlichkeiten, während sie ihren Blick diesmal auf „The Shark In Your Waters“ nach innen richtete und dabei ihren Weg zur Selbstverantwortung fand. Dass sie das ganze Album nicht zu einem bloßen Klagelied werden ließ, sondern sich von einer Vielzahl Inspirationsquellen aus Musik, Film, Literatur und Poesie anregen ließ, spricht zusätzlich für ihre Fähigkeiten als Songwriterin.
Punkte: 14/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 27.05.2022
Ruby McKinnon
Nettwerk
35:51
27.05.2022