Mit einem Saxophon lässt sich niemals richtig rocken. Instrumentals und Long Tracks mangelt es immer an Abwechslung und Dynamik. Bands, die an wenigen Songs über viele Jahre hinweg feilen, liefern stets halbgare Kompromisse ab. GIANT HEDGEHOG krönen trotzdem die Jahresbestenlisten 2022.
Zugegeben, das waren zunächst drei unzulässige Verallgemeinerungen, gefolgt von einer wohl unrealistischen Hoffnung meinerseits. Verdient hätte es die Band aus Münster allemal, mit ihrem ersten Langspielalbum "Im Siel" in den vorgenannten Listen aufzutauchen, denn sie schießt damit schon zu Beginn des Jahres den sprichwörtlichen Vogel ab. Wer sich allerdings dabei ertappt, den obigen Vorurteilen beizupflichten und so etwas wie "also da ist doch was dran" zu murmeln, der sollte um GIANT HEDGEHOG einen riesengroßen Bogen machen - oder sich den ersten Song "Gemurmel im Brunnen" anhören, bestenfalls überraschen und eines Besseren belehren lassen.
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Die musikalische Führung übernimmt nicht selten Thomas Mrosek am Saxophon, doch grundsätzlich darf jeder der vier Instrumentalisten in die Saiten hauen (Niklas Tieke), die Felle dreschen (Moritz Nixdorf) oder gängige Vorurteile über Bassisten revidieren (Patrick Aguilar).
Mir ist nicht bekannt, ob der für die Kompositionen hauptverantwortliche Gitarrist zu wenig schläft und stattdessen Ren & Stimpy durch sein Oberstübchen jagen, doch einige Songpassagen im knapp 24-minütigenTitelsong lassen diesen Verdacht aufkommen, wenngleich - und das ist unbedingt hörenswert - auch die beim ersten Hören scheinbar waghalsigsten Arrangements allesamt Siel-, pardon, zielführend geraten sind. Es gibt also einen roten Faden. Und einen grasgrünen. Und einen himmelblauen. Und noch ein paar andere, und sie werden alle auf gelungenste Weise miteinander verwoben.
Wer also "Im Siel" auflegt, kann sich auf ein abwechslungsreiches musikalisches Abenteuer freuen, das weitgehend ohne Gesang auskommt, und Träumerisches mit harten Kontrasten verbindet, jede Menge Überraschungen und kleine Kabinettstückchen bereithält, ohne dass jemals der Eindruck entsteht, dass sich die Musiker hier selbst in den Vordergrund drängen: Im Gegenteil, hier spielt die Musik die erste und die zweite Geige, und genau das macht "Im Siel" bei aller Eigenwilligkeit zu einem solch herausragenden Hörvergnügen.
Im Zentrum des Albums steht natürlich der Titelsong, den ich jedem abenteuerfreudigen Rock- und Metal-Fan ans Herz legen möchte, denn wie das Quartett hier verschiedene musikalische Erzählstränge miteinander verknüpft und zwischendurch ein Blastbeat-Gewitter zum Besten gibt, ist superb. Atmosphärisch werden für einen Moment Gefilde gestreift, in denen einst Opeth lauerten, dann wiederum kracht eine Erinnerung an die norwegischen Shining dazwischen - anstrengend? Mitnichten. Kurzweilig stachelig? Aber sowas von! In der Mitte des Album wartet im Anschluss mit "Lunas Bank" eine rund zweieinhalbminütige, gute Laune fördernde Chill-Out-Nummer auf, und das folgende "Damals am Teiche" wertet Gastsängerin Stella Polaris so entspannt wie wortlos auf.
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Ganz im noblen Stile einstiger Wegbereiter abenteuerlicher Rock-Musik ummanteln GIANT HEDGEHOG ihr Album mit handgefertigter Kunst aus Meisterhand, und bereits zum dritten Mal hat Poul Dohle ein igeliges (Front- und Back-) Cover vom Feinsten illustriert, so dass er nun wohl gut und gerne als Haus- und Hofkünstler der Band bezeichnet werden darf. Und nicht nur das Frontcover ist ein Hingucker, auch das Waldesdunkel auf der Rückseite fordert das Adlerauge heraus...
Die Eigenproduktion lässt in punkto Produktion kaum Wünsche offen, denn der Sound ist warm, knackig und kraftvoll, so dass alle Instrumente differenziert zu erkennen sind, und auch Nerds ihre helle Freude daran haben werden, zum Beispiel bei einem Hördurchgang besonders auf den Bass zu achten.
FAZIT: Die Spielfreude von GIANT HEDGEHOG auf "Im Siel" kennt zwischen lauschigem Seventies Prog und forschem Blastbeat-Gedresche nur wenige Grenzen, und das Quartett spielt eher (für sich selbst) in einer eigenen Welt als (wettbewerbsorientiet) in einer eigenen Liga. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb liefert die Band eine ziemlich grandiose Vorstellung ab. Das lange Warten hat sich gelohnt.
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 15.01.2022
Patrick Aguilar
Stella Polaris (Gastgesang)
Niklas Tieke
Moritz Nixdorf
Thomas Mrosek (Saxophon)
Eigenveröffentlichung
48:15
17.01.2022