Unserer Existenz ist gezeichnet von Polarität. Liebe und Schmerz, Angst und Befreiung, Sorge und Hoffnung. Oder schlicht die natürliche Geschlechterverteilung von Mann und Frau. All diese Dualität, die das menschliche Leben auszeichnet, wollen GLISTENING LEOTARD auf „Alter Ego“ vertonen. Und das gelingt ihnen sehr gut und auf erstaunlich visuelle Art.
Zwar gestaltet sich der Einstieg in das Album etwas holprig, aber spätestens mit „Gloria“ und den folgenden Songs wird ein durchgehender roter Faden erkennbar.
Der Opener „Vascular Access“ ist ein High-Energy Bündel, das die Kontraste dieser Scheibe zwar sehr passend vertont (energischer Anfang, gemächliche und doch irgendwie quirlige Strophen), aber vielmehr wie ein kurzer Abriss dessen klingt, was folgt, als eine offene Einleitung zu sein.
„Gloria“ groovt danach ziemlich locker, wirkt an vielen Stellen aber dermaßen krude zusammengewürfelt, dass es doch einer gewissen Anstrengung seitens des Hörers bedarf. Dabei gilt dieser Eindruck weniger für die Musik als für die Stimmung, die von verzweifelt über resigniert bis hin zu passiv wahrnehmend sämtliche Stadien durchläuft.
Andere Nummern wie „New Dawn“ klingen an vielen Stellen regelrecht beschwingt. Was auch am sehr präsenten Bass liegt, der neben dem Gesang immer wieder eine Art zweite Führungsrolle in vielen Songs einnimmt. „Parabolic Antenna“ reizt hierbei die Kontraste zwischen ruhigen, aber etwas säuselnden Strophen und energischem Refrain mit vollem Instrumental-Crescendo sehr weit aus. Anfangs wirkt die Musik auf diese Weise an einigen Stellen etwas unkontrolliert, bei genauerer Betrachtung beginnt aber jedes Element wie ein Zahnrad ins andere zu greifen.
Einige Stücke entwickeln sich nach und nach sogar zu hartnäckigen Ohrwürmern. „I Know You Know“ ist so ein Fall. Anfänglich nervt der Gesang mit seinen krassen Kontrasten (ruhige Strophen und fast Distortion-mäßige Schreie in Teilen des Refrains), die durchaus im Ohr schmerzen können. Nach einigen Durchläufen erschließt sich der Song aber als ein schlüssiges Bild und wird sogar mehr und mehr zu einem echten Knaller.
Diese Entwicklung trifft tatsächlich auf sehr viele Songs von „Alter Ego“ zu. In weiten Teilen wirkt die Musik anfangs unkonventionell und mitunter auch seltsam, aber nach und nach setzten sich die einzelnen Elemente zu einem schlüssigen Gesamtpaket zusammen, das einmal erkannt durchaus zu gefallen weiß.
„What If“ versprüht sogar ein sehr cooles Alternative-Flair und entwickelt sich relativ schnell zu einem Ohrwurm, zwischen hart und zart. Mit der Zeit kommen gar vereinzelte Parallelen zu ALTER BRIDGE zum Vorschein.
Zum Schluss fasst „The Balance“ die musikalische Reise, welche „Alter Ego“ darstellt, ganz gut zusammen, wenn auch der Grundton etwas melancholischer, fast etwas resigniert ausfällt. Das passt nur zu gut ins Bild.
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FAZIT: „Alter Ego“ von GLISTENING LEOTARD ist kein Album für den schnellen Genuss. Die Musik bietet viele Details, die es lohnt, aktiv zu entdecken. Nicht nur auf der instrumentalen Ebene, sondern auch textlich sorgt ein zweiter oder dritter Blick oft für einen ganz anderen Vibe als auf den ersten Eindruck erwartet. Das hat zur Folge, dass die Musik etwas unorganisiert wirkt, mit der Zeit aber gerade diese Unvorhersehbarkeit ihren sehr eigenen Charme bekommt, der neben dem zweifellos vorhandenen Talent der Musiker die größte Stärke von „Alter Ego“ ist.
Punkte: 10/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 03.02.2022
Björn Müschen
Kai Steckmann, Tom Johannsen, Marcus Dittrich, Manuel Franken, Annika Gemein, Lea Lenhart, Noelia Pohl Jimeno
Andrej Henze, Ralf Gemein
Arthur Theuring
Eigenproduktion
49:27
22.01.2022