„Wanderlust“ von JACOB KARLZON ist ein wahrhaft echtes Gänsehaut-Album eines ganz großen, mehrfach ausgezeichneten Pianisten geworden, ganz ähnlich wie das Album mit demselben Namen „Wanderlust“ 1994 bereits ein wunderbares Gänsehaut-Album des Gitarristen JAY STAPLEY wurde. Doch es gibt neben der hypnotisierenden Atmosphäre beider Alben noch weitere Parallelen, wie beispielsweise, dass sich insgesamt 12 Titel hinter diesem Namen vereinen, die allesamt eins sind: Suchterzeugend!
Noch dazu verbirgt sich hinter „Wanderlust“ zugleich ein zweisprachiges Geheimnis, denn für uns Deutsche könnten wir den Titel auf die Freude am Wandern (natürlich durch die Natur und die Schönheiten, die uns dieses zu Fuß erobernde Fleckchen Erde zu bieten hat) deuten, doch auch im anglo-amerikanischen Sprachbereich existiert dieser 'deutsche' Begriff und greift noch deutlich weiter, weil er als Umschreibung für das Fernweh und die Sehnsucht nach fremden Orten, die man noch erkunden (aber bitte nicht erobern) will, steht. So wird das, was der englische Gitarrist Stapley mit seinem Album auszudrücken versuchte, eindeutig – das aber, was der schwedische Pianist ausdrückt, dürfen wir nur zu gern auch zweideutig interpretieren. Bei seiner Musik bleibt uns auch gar nichts Anderes übrig.
Selbst Erinnerungen an H.C. ESCHER kommen beim Betrachten des 'Treppenmotivs' auf dem Album-Cover auf. Ähnlich verwinkelt und zugleich unendlich wirkt auch die Musik auf „Wanderlust“, was eben für den großartigen Gitarristen Stapley gleichermaßen wie für den schwedischen Pianisten gilt. Allerdings verzichtet Karlzon fast gänzlich auf die Gitarre, dafür aber setzt er voll auf den Schwarz-Weiß-Tasten-Reichtum.
Einem Bolero gleich baut sich bereits das erste Stück „Art Of Resistance“ dieser Doppel-LP auf. Es steigert sich, es kämpft sich voran, beginnt fragil, nur auf ein Piano plus verhaltenem Bass und Electronics setzend, um dann Stück für Stück mit druckvollem Bass, Schlagzeug und elektronischen Klangerzeugern gigantische Dimensionen, einem Kampf, der sogar noch frei jazzend ausbricht, mit am Ende glücklichen Ausgang gleichend, zu erreichen. Allein diese Eröffnung nimmt den Hörer sofort gefangen und macht ihn süchtig nach dem, was da wohl noch in den knapp 70 Minuten folgen wird.
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Erfährt man noch dazu die Hintergründe zu diesem Stück, das noch deutlich vor dem Kriegsbeginn durch Russland gegen die Ukraine entstand, dann übermannt einen ein emotionaler, fast bedrückender Schauer. Wie kann nur ein einziges, gut fünf Minuten langes (episches) Werk so viel ausdrücken, was regelrecht zwischen Krieg und Hoffnung, Frieden und Zerstörung tendiert. Man muss eben als Musiker nicht vor einer Glaskugel sitzen. Es reicht schon, in sich hineinzuhören, seinen Gedanken und Gefühlen freien Lauf zu lassen, während die Politik um einen herum ihren eigenen Regeln folgt, um diesem Inneren wie Äußeren in Noten eine musikalische Ewigkeit zu verleihen – oder um es mit Karlzons Worten auszudrücken: „Bevor das Stück 'Art Of Resistance' seine finale Form bekam, dachte ich viel darüber nach, wie offensichtlich die Demokratie auch in einigen europäischen Ländern demontiert wird. Es gab in unseren Breitengraden jüngst eine Menge Beispiele für autoritäre Verbotsversuche zu beobachten, gegen die wir alle aufstehen müssen. Einer Form von Unterdrückung folgt meistens eine weitere, die letztlich uns alle einschränken kann.“
Ja! Und nun stehen wir sogar vor einem riesigen Scherbenhaufen und erleben nicht nur die Einschränkungen, sondern auch die höchste Form von Unterdrückung: einen Krieg – mitten in Europa! Und so wird im Grunde „Art Of Resistance“ zum unfreiwilligen Soundtrack für diese schreckliche, schwierige Zeit – aber zugleich auch zur klangvollen Hoffnung! Und wenn jetzt wer behauptet, diese Zeilen wären voller Pathos, dann hat er wohl noch immer die Zeichen der Zeit nicht begriffen.
Weiter geht’s mit „Subject To Change“, das schon fast einem progressiven Rock-Stück ähnelt und sich in einen Rausch spielt, ganz ähnlich wie schon „Art Of Resistance“ kurz zuvor. Und das alles passiert bereits auf der LP-A-Seite dieses Doppel-Albums, auf dem allerdings „Trip The Light Fantastic“ noch für ein wenig verträumte Entspannung sorgte. Doch auch hier gilt – das Stück steigert sich von Minute zu Minute...
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„Your Latest Comeback“, das letzte Stück der LP-B-Seite, überlässt anfangs dem Bass seinen Freiraum, dann steigt das Schlagzeug mit vorsichtig rockendem Rhythmus ein, um diesen dann durch Electronics zu erweitern, bis das Piano mit einem Schlag eine klassische Melodie darübersetzt, die sich langsam Richtung Jazz improvisierend entfaltet.
„Lullaby Of Runaways“ und „Brave Souls“ bestechen zudem mit dem faszinierenden Trompetenspiel von MATHIAS EICK und verleihen beiden Stücken eine feine zusätzliche Jazz-Note. Das Schlaflied für Ausreißer bringt gar elektronische Ambient-Züge mit sich über denen die Trompete regelrecht thront, während die stolzen Seelen anfangs sehr melodisch ihre Bahnen ziehen, bis sich mithilfe des guten Steinway Flügels, den Karlzon am liebsten spielt, die Jazz-Rhythmen wieder in den Vordergrund drängen bis die Trompete erneut alles in die anfänglichen 'sauberen' Melodien zurückführt.
Demgegenüber steht ein Stück wie „Nordic Noir“. Herrlich verträumt, ruhig, vom Steinway-Flügel bestimmt und ebenjene betitelte nordische Nachtstimmung vermittelnd, so als stünde man in Skandinavien nachts irgendwo auf einem Berg und beobachtet den Polarstern.
Oder „Promises Kept“, bei dem die Streicher maßgeblich das Konzept bestimmen – und die immer wieder auch in anderen Stücken („Steps & Stages“, „To The Moon And Back“) des Albums auftauchen, selbst wenn sie dort häufig zur breitflächigen Untermalung, ja Orchestrierung, der Melodien und Stimmungen eingesetzt werden. Noch dazu taucht bei „Promises Kept“ sowie „Angel By The Sea“ an der akustischen Gitarre Dominik Miller auf, immerhin auch der Gitarrist bei STING.
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Selbst progressive Rock-Elemente fehlen auf „Wanderlust“ genauso wenig wie Ausflüge in die Klassik und den puren Jazz. Hier wandert wortwörtlich einer durch die musikalischen Welten jenseits jeglicher Trivialität.
So wird der gut 50-jährige JACOB KARLZON zum Abbild großartig fusionierter Klangwelten, getreu den besten Zeiten von ESBJÖRN SVENSSON und des derzeitigen Jazz-Shootingstars, der ebenfalls aus Schweden kommt und 20 Jahre jünger, dafür aber Karlzon verdammt ähnlich ist: JOEL LYSSARIDES, welcher über Spotify bereits auf mehr als 50 Millionen Abrufe verweisen kann und ebenfalls neben Bass und Schlagzeug auf die Magie der instrumentalen Melancholie setzt. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn Lyssarides in Karlzon nicht sein Vorbild sieht.
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FAZIT: Fragt man JACOB KARLZON nach 'seiner musikalischen Schublade', dann erhält man von ihm die keinesfalls großspurige, sondern zurückhaltend-sympathische Antwort: „Alternative Musician“. Oh, welche Untertreibung, wenn man dieses zeitlose und trotzdem vom Zeitgeist geprägte „Wanderlust“-Album mit seinem Kopf-Motiv samt H.C. ECHER-Treppen hört. Das ist zeitgenössische Instrumental-Musik auf der Spitze eines Berges, den nur ganz, ganz Wenige zu erklimmen vermögen. Dazu muss man ein wahrer Freigeist und ans Geniale grenzender Könner sein: Beides ist JACOB KARLZON! Man muss auf alle Schubladen verzichten, darf sich nicht kategorisieren oder einengen lassen. Genauso wie Karlzon! Dieser Pianist kann das Eine spielen und schon an das Andere denken, um es dann gleich mit hinzuzunehmen und am Ende wieder zur komplexen Schönheit der Musik zurückzukehren.
Übertreibungen?
Nein – das sind keine Übertreibungen!
Das ist „Wanderlust“ von JACOB KARLZON!
Erschienen auf www.musikreviews.de am 19.03.2022
Morten Ramsbøl
Dominic Miller
Jacob Karlzon
Rasmus Kihlberg
Mathias Eick (Trompete), Sara Trobäck Hesselink, Hanna Eliasson (Violinien), Tuula Fleivik Nurmo (Bratsche), Claes Gunnarsson (Violoncello)
Warner Music
68:31
04.03.2022