Nach ihrem klanglich wie konzeptionell futuristischen letzten Studioalbum "How Do We Want To Live?" stürzen sich LONG DISTANCE CALLING buchstäblich in die Natur: "Eraser" soll als Hommage an durch den Menschen vom Aussterben bedrohte Tiere verstanden werden und klingt dementsprechend betont organisch, wo der Vorgänger elektronische Klangerzeuger (Synthesizer) in den Vordergrund rückte.
Das Gros der neun Stücke steht für ein Tier, das Intro ´Enter: Death Box´ spielt hingegen auf die sogenannte Earth's Black Box an (ein Rechenspeicher aus Stahl in Tasmanien, der Umweltdaten für eine Zukunft festhält, in der wir vielleicht nicht mehr existieren, das nur nebenbei), und das fast neuneinhalbminütige Titelstück repräsentiert die Menschheit selbst. Der Track erzeugt zum Schluss eine unheilvolle Atmosphäre, peitscht zunächst an und bricht im letzten Drittel fast komplett zusammen, um sachte mit Streichersatz auszuklingen. Was das für "Eraser" an sich und unser Schicksal als Spezies bedeutet, bleibt deutungsoffen.
Der stampfende Dreieinhalbminüter ´Giants Leaving´ ("vertonter" Albatros) und die nach tänzelnder Einleitung mit flotten Achteln antreibende Single ´Kamilah´ (Gorilla) sind die eingängigsten Nummern auf "Eraser". Letztere fährt die Regler zur Halbzeit zurück, um sich dann bedächtig langsam mit sehnsüchtigen Gitarrenleads hochzuschrauben, womit sie exemplarisch für einen der wesentlichen kompositorischen Kniffe von LONG DISTANCE CALLING steht.
Wohingegen das zackig schreitende und jäh endende ´Blades´ (Nashorn) die ideale Eröffnung der Platte darstellt, macht der Longtrack ´Blood Honey´ (Biene) mehrere Stimmungswechsel durch und überrascht andauernd mit pfiffigen Ideen, seien sie schlicht rhythmischer Art oder "singende" Flageolet-Töne; prog-rockiger wird die Band im weiteren Verlauf nicht, doch dafür wirkt ´Sloth´ (Faultier) mit Saxofon von Jørgen Munkeby, dem Frontmann der norwegischen Shining, wie eine Mischung aus Post-Rock-Minimalismus und düsterem Jazz.
´500 Years´ (Grönlandhai) kommt mit schluchzender und seufzender (Slide-)Gitarre einem herkömmlichen Gesangs-Track am nächsten und erfährt eine beispiellose dramatische Steigerung. Drummer Janosch Rathmer ist übrigens der gar nicht mal so heimliche Star des Albums, erstens wegen seines pointierten wie fantasievollen Spiels, zweitens dank seines atemberaubend lebendigen Schlagzeugsounds.
FAZIT: Das achte LONG DISTANCE CALLING-Album begeistert nicht nur durch sein aufwühlendes inhaltliches Konzept, sondern destilliert durch seine bewusst naturbelassene Anlage die Essenz der Band. Instrumentale Rockmusik ist selten so emotional ergreifend und handwerklich bestechend wie hier. <img src="http://vg09.met.vgwort.de/na/1028bc7b19684d888ff6cb28ea55467e" width="1" height="1" alt="">
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 18.08.2022
Jan Hoffmann
David Jordan, Florian Füntmann
Janosch Rathmer
earMusic / Edel
57:21
26.08.2022