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Marillion: An Hour Before It's Dark – Doppel-LP in farbigem Vinyl

Stil: Progressive Rock

Cover: Marillion: An Hour Before It's Dark – Doppel-LP in farbigem Vinyl

Erst kommt die Angst mit <a href="http://www.musikreviews.de/reviews/2016/Marillion/F-E-A-R/" target="_blank" rel="nofollow">„F E A R“</a> und dann der Untergang, wenn wir es nicht schaffen „Be Hard On Yourself“ zu sein, denn dann haben wir nur noch „An Hour Before It's Dark“. Dazwischen aber liegen fast sechs MARILLION-Jahre – aus musikalischer Sicht verdammt gute, so gesehen, aus textlicher, gesellschaftlicher, ökologischer und sozialer Sicht verdammt schlechte, so gesehen. Eigentlich könnte das auch das Fazit zur aktuellen (farbigen) Doppel-LP bzw. CD (plus DVD) von MARILLION sein. Denn „An Hour Before It's Dark“ setzt den eingeschlagenen „F E A R“-Weg, den wir schon anno 2016 'als ein absolutes Highlight in der gesamten MARILLION-Ära' betrachteten, fort: musikalisch wie thematisch.

Zugleich beeindruckt die hier besprochene, limitierte Doppel-LP-Edition auf orangefarbenem Vinyl durch kristallklaren und natürlich ideal für den Plattenteller geschaffenen Sound, der sich voluminös und mit gut abgewogenen Höhen sofort im Raum breitmacht und so aus einem der besten MARILLION-Alben zugleich eins der auch aus nostalgischer Sicht besonders wertvollen werden lässt.
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Die Band um den singenden und textenden 'h' hadert mit dem, was rund um uns herum auf dieser Welt passiert, von der Klimakatastrophe bis Corona, von Größenwahn bis zur totalen Aufopferung – und da war noch nicht einmal der Krieg in der Ukraine angesagt.

Speziell geht es MARILLION dieses Mal um die Vernichtung unserer Erde, die Zerstörung der Natur und dem selbstverliebten Handeln vieler Zeitgenossen, die ihr aufgeblasenes Ego über alles andere stellen – aber auch um diejenigen, die Verzicht üben, Hilfe leisten, bis sie selber zum Hilfsfall werden und am Ende vielleicht tatsächlich von der mörderischen Maschinerie zerrieben werden. MARILLION lassen im Angesicht des Krieges ihren auf dem Album gleich doppelt vertretenen Song „Murder Machines“ (am Album-Ende als 12“-Remix mit deutlich mehr elektronischen Zutaten) zum Blick in die Glaskugel werden, so als sähen sie das voraus, was gerade als Krieg in der Ukraine tobt, auch wenn sie in diesem Falle stärker die Pandemie betonen. Dass diese zwei Jahre später von einem Krieg überlagert wird, wer sollte das ahnen – doch die „Murder Machines“ rollen unerbittlich weiter: „Don't know we're only human / A planet there for using / Take their cells and multiply / Until it dies...“
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Dem Thema gemäß zieht auf „An Hour Before It's Dark“ etwas mehr Härte ein, auch wenn ganz viel von der „F E A R“-Melancholie erhalten bleibt, wenn wir uns mit den britischen Proggern beispielsweise nach „Sierra Leone“ begeben, um uns dort im „The White Sand“ niederzulassen und die Schönheit eines Diamanten genießen, ohne an dessen Verkaufswert zu denken, oder einfach nur davon träumen, während der Rest der Welt langsam in Schutt und Asche liegt und ein neuer, modernerer Dr. Frankenstein seinen monströsen, perfiden Plan fortsetzt, wie wir es auf „Reprogram The Gene“ erfahren. Doch dem steht – tatsächlich auch textlich verewigt – eine Greta T. gegenüber. Das Alte muss untergehen, um den Jungen die Hoffnung zu bewahren. Viel musikalischer Bombast umrahmt diese kritischen Texte, wobei sogar an die größten Zeiten der SIMPLE MINDS Erinnerungen aufkommen, als die ihre „Street Fighting Years“ ausfochten und damit eins der bewegendsten Alben der Rockmusik-Geschichte schufen.

MARILLION jedenfalls bauen sich mit „An Hour Before It's Dark“ ein weiteres Denkmal, das deutlich an ihre besten Zeiten rund um „Brave“ und „Marbles“ sowie natürlich „F E A R“ heranreicht, wozu auch die ausgiebigen Soli beitragen, egal ob es der bestechende Gitarren-Sound von Steve Rothery oder die mitunter deutlich an ALAN PARSONS PROJECT erinnernden Keyboard-Klangwelten, die Mark Kelly erzeugt, sind. Und h singt sich mal wieder den Frust und die Enttäuschung fragil von der Seele oder gibt sich lautstark und kämpferisch, wenn er in „The Crow And The Nightingale“, das so romantisch mit dem THE NIGHT CHOIR sowie einem Piano eingeleitet wird, und in dem er am Ende lautstark 'den Mond anheult und den Himmel anschreit' („Howlin' at the moon / Squawking at the sky“).

Fast schon gewohnt erscheint dann auch, dass sich die britischen Prog-Rocker für das ganz große Finale die viertelstündige, todtraurige Suite „Care“ aufheben, die sich ganz den Corona-Schrecken widmet, indem sie die aufopferungsvolle, verzweifelte und mitunter auch am Ende leider nicht erfolgreiche Lebensretter-Arbeit von Medizinern und Pflegern während der schrecklichen Pandemie besingen und die Erkenntnis vermitteln, dass die wahren Engel nicht hinter Kirchenmauern warten oder als Stein- und Bronze-Statuen lauern, sondern sich als Helden der Pandemie um die Menschen kümmern, die lebensgefährlich an dem Virus erkrankt sind. Definitiv wird „Care“ nicht nur seiner traurigen Aktualität, sondern auch seiner epischen und musikalischen Prog-Bandbreite wegen zu einem der Höhepunkte im Rahmen der gesamten MARILLION-Ära, die sich ja längst auch dadurch auszeichnet, aktuell heiße Eisen anzupacken statt den letzten Einhörnern hinterherzujagen.
<br><center><iframe width="560" height="315" src="https://www.youtube.com/embed/v4VfrnTvm9Y" title="YouTube video player" frameborder="0" allow="accelerometer; autoplay; clipboard-write; encrypted-media; gyroscope; picture-in-picture" allowfullscreen></iframe></center></br>

FAZIT: Die britischen Kult-Progger MARILLION haben derzeit einen echt guten Lauf, auch wenn sie sich dafür länger Zeit lassen. Nach dem bereits sehr gelungenen letzten Album „F E A R“, das bereits fast sechs Jahre zurückliegt, legen sie mit „An Hour Before It's Dark – Doppel-LP in farbigem Vinyl“ ein wiederum hochgradig großartiges Album vor, das sich durchaus konzeptionell mit den aktuellen Themen von Klimakatastrophe bis Pandemie auseinandersetzt und dabei einen weiten Bogen zieht, um am Ende als progressives Gesamtkunstwerk zu dem Schluss zu kommen „An Hour Before It's Dark“. Nicht wirklich hoffnungsvoll – musikalisch wie textlich aber großartig!

Punkte: 13/15

Erschienen auf www.musikreviews.de am 23.03.2022

Tracklist

  1. <b>Seite A</b> (21:30):
  2. Be Hard On Yourself (9:28)
  3. *The Tear In The Big Picture
  4. **Lust For Luxury
  5. ***You Can Learn
  6. Reprogram The Gene (7:02)
  7. *Invincible
  8. **Trouble-Free Life
  9. ***A Cure For Us?
  10. Only A Kiss [Instrumental] (0:39)
  11. Murder Machines (4:21)
  12. <b>Seite B</b> (17:28):
  13. The Crow And The Nightingale (6:34)
  14. Sierra Leone (10:54)
  15. *Chance In A Million
  16. **The White Sand
  17. ***The Diamond
  18. ****The Blue Warm Air
  19. *****More Than Treasure
  20. <b>Seite C</b> (15:03):
  21. Care (15:03)
  22. *Maintenance Drugs
  23. **An Hour Before It's Dark
  24. ***Every Cell
  25. ****Angels On Earth
  26. <b>Seite D</b> (6:27):
  27. Murder Machines – 12“ Remix (6:27)

Besetzung

  • Bass

    Pete Trewavas

  • Gesang

    Steve 'h' Hogarth

  • Gitarre

    Steve Rothery

  • Keys

    Mark Kelly, Steve Hogarth

  • Schlagzeug

    Ian Mosley

  • Sonstiges

    Choir Noir, The Friends Chorus (Chorgesang), String Quartet (Streicher), Sam Morris (French Horn), Bethan Bond (Konzert-Harfe), Kat Marsh (Backing Vocals und Chor-Arrangement), Luis Jardim (Shaker, Cabasa, Cowbell, Tambourine), P. Bisset, B. Hartshorn, G. Underwood (Noises, Additional Sounds)

Sonstiges

  • Label

    earMUSIC/Edel

  • Spieldauer

    60:28

  • Erscheinungsdatum

    04.03.2022

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