Gibt's was Neues von NEMO?
Klare Antwort: Jein!
Als sich die französischen Neo-Progger 2015 trotz ihrer wunderbaren Prog-Exkurse von der Bildfläche zurückzogen, war im Grunde nur noch ihr singender Gitarrist als JPL weiter aktiv und wahrte den musikalischen Geist seiner Band mit Solo-Veröffentlichungen, denen deutlich der NEMO-Schreibstil anzumerken war.
Von NEMO jedenfalls war nichts Neues mehr zu vernehmen – und plötzlich liest man auf einem Album den Bandnamen der Franco-Progger, die längst schon den Beweis dafür erbracht haben, wie hervorragen der Progressive Rock auch mit der französischen Muttersprache funktioniert, weswegen man sie oftmals gerne auch in einem Atemzug mit ANGE ausspricht. Doch alles Opern- und Arienhafte fehlt ihrer Musik, dafür gibt’s deutlich härtere Gitarrenpassagen und jede Menge schwindelig machende Stimmungswechsel in ihrer Musik zu entdecken.
Nun also „Les Nouveaux Mondes“.
Ein neues Album!?
Nein, stimmt nicht – es war ihr ambitioniertes erstes Album aus dem Jahr 2002, das nun – genau 20 Jahre später – eine spannende, deutlich besser klingende, Neuauflage als „Les Nouveaux Mondes – 2022 ReRecording“ erlebt.
Tatsächlich hat die Band in Urbesetzung ihr Debüt völlig neu eingespielt und mit modernster Technik klangvoll aufgepeppt. Allerdings wurden die Stücke aus der Ferne aufgenommen und nicht gemeinsam als Band eingespielt. Das Ergebnis ist jedenfalls beeindruckend und beweist dem Hörer zugleich, wie zeitlos dieser NEMO-Prog ist, der locker eine Vielzahl progressiver Neuerscheinungen aussticht, auch die von solchen Größen wie beispielsweise die permanent hochgejubelten PORCUPINE TREE.
Vielmehr erinnert „Les Nouveaux Mondes – 2022 ReRecording“ in seiner oftmals finsteren Mystik und dem sich an JULES VERNEs „Kapitän Nemo“ orientierenden Konzept, der wohl sicher auch als Namensgeber für die Franzosen galt, die damit zugleich auf die textlich-stilistische Ausrichtung ihrer Musik verwiesen, an solche großartigen Bands wie DISCIPLINE oder ECHOLYN und IZZ, allesamt amerikanische Prog-Vertreter. Das Schöne daran ist hierbei, dass NEMO eben Französisch singen und so eine echte Ausnahmestellung einnehmen.
Aber auch ohne Gesang funbktionieren NEMO ausgezeichnet. Der instrumentale „Teufelstanz“, welcher in seinen knapp 3 Minuten genau das umsetzt, was der Titel verspricht, funktioniert auch ohne die charismatische Stimme von Jean Pierre Louveton (JPL), obwohl sie das besondere Markenzeichen hinter NEMO ist.
Der zwanzigminutige Longtrack „Phileas“, das finale und zugleich komplexeste Highlight dieses Albums, entwickelt sich wie eine monumentale Suite und nimmt von Minute zu Minute an Fahrt auf, um am Ende regelrecht in einem Klanggewitter zu explodieren, bei dem diesmal eine besondere Bedeutung den Keyboards zukommt, nachdem in der ersten Albumhälfte hauptsächlich E-Gitarre und Stimme dominierten. Selbst der Gesang wirkt hier mitunter seltsam, geht in gesprochenen Passagen auf und wird völlig überraschend von einer Marimba abgelöst, die dann von einer akustischen Gitarre im Flamenco-Stil begleitet wird und irgendwann völlig in weltmusikalisch anmutende (indische) Gefilde abdriftet, bis einem zwar nicht Buddha, aber auf jeden Fall der Gedanke an MIKE OLDFIELD erscheint. Übrigens sind hier diejenigen, denen auch der Ost-Prog am Herzen liegt, klar im Vorteil, denn die werden, nachdem sie dieses herrliche weltmusiklaische Zwischenspiel gehört haben, bestimmt ihre BAYON-Platten von Amiga aus dem Plattenschrank holen.
Doch vorher ballern erstmal NEMO wieder richtig los und die E-Gitarre kämpft sich gegen alle Keyboard- und Weltmusik-Klänge frei, während sie von einem druckvollen, an GONG erinnernden Schlagzeugspiel vor sich hergetrieben wird. Ein fantastisches Stück, welches zum Ende hin auch cineastische Züge (Eigentlich Pflicht bei so einem Bandnamen!) annimmt, und das auf jede „Best Longtracks“-Liste gehört wie beispielsweise auch „Suite II“ von BAYON.
NEMO betonen außerdem, wie wichtig ihnen das Konzept hinter diesem Debüt-Album ist und geben auch denjenigen, die der französischen Sprache unkundig sind, einen umfassenden Einblick, der durchaus ausreichend ist, um diese abwechslungsreiche Musik auch dem darin französischsprachig besungenen Inhalt zuzuordnen: „Wir werden euch eine Geschichte erzählen, eine außergewöhnliche Geschichte. Eine Geschichte von Heldentaten und Entdeckungen. Eine Geschichte der Herausforderungen und des Fortschritts. Wir werden Ihnen die Geschichte dieser Männer erzählen, die die Welt vorangebracht und die Grenzen des Unmöglichen überwunden haben. In diesen Geschichten steht der visionäre Geist im Dienste der Vorstellungskraft, und die Vorstellungskraft ist ein Komplize des Fortschritts. Die Figuren, die wir euch gleich vorstellen werden, sind direkt aus der Fiktion entsprungen, haben die Wissenschaft beflügelt und die Welt reformiert...“
Als Bonus gibt’s mit „Africa“ ein weiteres Instrumental, das sich wieder im GONG-Stil suhlt und nicht etwa – bei diesem Namen – TOTO covert.
Der abschließende Live-Longtrack holt dann zum progressiven Rundumschlag aus und driftet an DEEP PURPLE genauso wie an KING CRIMSON und ZAPPA vorbei, um trotzdem seinen ureigenen NEMO-Klang zu wahren, ihm aber bei dieser Live-Variante noch ein paar neue Prog-Farben hinzufügt.
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FAZIT: Es war eine wirklich gute NEMO-Idee, das erste, vor 20 Jahren erschienene, Album ihrer seit 2015 ruhenden (oder endgültig beendeten) Prog-Rock-Karriere neu aufzulegen und einzuspielen sowie mit zwei gelungenen Bonusstücken zu versehen. Denn was für eine progressive Strahlkraft „Les Nouveaux Mondes – 2022 ReRecording“ innewohnt, wird mit dieser Neuauflage und dem sehr guten Sound absolut deutlich. Zeitlos und zugleich ein großartiges Debüt!
Punkte: 12/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 14.09.2022
Lionel B. Guichard, Jean Pierre Louveton
Jean Pierre Louveton, Guillaume Fontaine
Jean Pierre Louveton
Guillaume Fontaine
Jean Baptiste Itier
Quadrofonic/Just For Kicks
76:58
02.09.2022