Wer einem auch immer weismachen will (Und davon gibt’s ziemlich viele Leute...), dass es keinen Unterschied macht, ob man ein Album downloadet oder sich als digitalen Tonträger anschafft – oder aber, wenn die Möglichkeit besteht, sich die Vinyl-Version besagten Albums zu besorgen, dann ist derjenige jedenfalls aus rein 'ohraler' Sicht auf dem kompletten Holzweg. Oder er hat nicht den unglaublich warmen, analogen Stereo-Sound des schlicht großartigen Albums „Sea Drift“ von THE DELINES gehört, <a href="http://www.musikreviews.de/reviews/2022/The-Delines/Sea-Drift/" target="_blank" rel="nofollow">das mein Kollege Maurer bereits in seiner digitalen Version besprochen hat</a>.
Am besten aber ist die Tatsache, dass THE DELINES genau die Band sind, die mit ihrem warmen Retro-Sound, der nach einer geschickten Verschmelzung von Country, Soul, Folk und Americana klingt und wie die musikalische Fortsetzung von TONY JOE WHITE oder RICKY LEE JONES und gar CALEXICO erscheint, sowie zugleich mit der begnadeten Sängerin Amy Boone beglückt ist, mit welcher man unbedingt eine LP machen muss. Wenn beispielsweise bei „Lynette's Lament“ eine Orgel beginnt und dann von einer Trompete überlagert wird, während sich vorsichtiges Jazz-Flair und ein tiefes TINDERSTICKS-Feeling – vielleicht gerade weil dieses Stück ohne Gesang auskommt – breitmacht, ist man von dem, was da aus der schwarzen Rille kommt, einfach geplättet. Auch dass zu solcher Musik unbedingt Streicher gehören, ist klar – und wird ausgiebig auf „Sea Drift“ ausgelebt. Wie gesagt: Wer die TINDERSTICKS liebt, wird genauso intensiv auch THE DELINES lieben, vielleicht gerade weil hier eine Sängerin gänzlich die gleiche Atmosphäre verbreitet wie Stuart A. Staples.
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Und so geht es die gesamte LP lang – ruhige Klänge, die sich mal zu fragilen Soul-Balladen oder aber emotionalen Singer/Songwriter-Hymnen erheben und in denen immer eine echte Gänsehaut-Geschichte erzählt wird, die auf der bedruckten LP-Innenhülle nachzulesen ist, lassen „Sea Drift“ zu einem Album werden, das des Hörers Seele streichelt – vorausgesetzt er hat sie noch nicht in den Wirren der Zeit und den medialen Hass-Eruptionen irgendwo eingebüßt. Sollte das der Fall sein, so ist für ihn speziell der Song „Kid Codeine“ besonders wichtig. Oder aber auch die tiefe Botschaft hinter „Drowning In Plain Sight“: „I just want love to remind me that love can still find me / Please hurry up I feel like I'm drowning in plain sight.“
Um die Schwere und Intensität besonders des Gesangs von Amy Boone völlig zu begreifen, sollte man zudem einen Blick in die Vergangenheit – und zwar etwa sechs Jahre zurück – werfen.
THE DELINES waren mit ihrem Debüt-Album „Colfax“, das bereits 2014 veröffentlicht worden war, sehr erfolgreich, arbeiteten bereits am Nachfolger „The Imperial“, das sie beinahe komplett eingespielt hatten, da ereignete sich 2016 ein tragischer Autounfall, in den Amy Boone verwickelt war und der zur Folge hatte, dass sie für mehrere Jahre ins Krankenhaus musste und die Fertigstellung von „The Imperial“ sich bis 2019 hinauszögerte. Ob – und wenn ja, in welcher Verfassung – sie überhaupt wieder Musik machen und auf die Bühne gehen könnte, stand in den Sternen. Doch die standen zu ihrem Glück gut, sodass der Kopf hinter THE DELINES, Willy Vlautin, im Rahmen von „Sea Drift“ glücklich feststellte: „Die 'The Sea Drift'-Sessions waren auch das erste Mal seit Amys Verletzung. Dass sie sich im Studio stark und selbstbewusst fühlte, kann man auf diesem Album wirklich hören. Ihre Stimme ist stark, eine Stärke die offenbart, dass sie das Trauma und den Schmerz überwunden hat.“
Aber auch auf dem Album gibt es sehr schmerzvolle Songs zu hören, deren Texte einen mitten ins Mark treffen, wenn beispielsweise auf „Surfers In Twilight“ um eine Vergewaltigung oder bei „This Ain't No Getaway“ um die Zerstörung durch eine Sucht geht.
„Sea Drift“ bezaubert und verstört zugleich.
Und am Ende jeder LP-Seite lässt es uns noch einmal Zeit zum Durchatmen, wenn es jeweils mit einem entspannt-verträumten Instrumental endet.
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FAZIT: Die Vinyl-Version von „Sea Drift“ des RICHMOND FONTAINE-Kopfes Willy Vlautin, der mit THE DELINES, bei denen besonders die fantastische Sängerin Amy Boone hervorsticht, eine großartige, sehr ruhige Americana-Folk-Country-Singer/Songwriter-Band anführt, begeistert zum einen durch schwer beeindruckende Kompositionen und Texte, die einen in bester TINDERSTICKS-Manier gefangennehmen und zum anderen durch einen ausgezeichneten, analogen Stereo-Klang, der sich bei dieser Musik ideal entfalten kann. Ein Album für die Ewigkeit.
Punkte: 14/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 22.05.2022
Freddy Trujillo
Amy Boone, Willy Vlautin
Willy Vlautin
Cory Gray
Sean Oldham
Cory Gray (Trompete), John Askew (Baritone Gitarre), Tucker Jackson (Pedal Steel)
Décor Records/Indigo
40:48
11.02.2022