Vierundzwanzig Jahre nach dem letzten Studioalbum, das selbst nur ein solitäres Aufflackern war (Live gab es allerdings weitere hörenswerte Lebenszeichen), erscheinen die Krautrock-Urgesteine AGITATION FREE mit einem neuen Werk auf der Bildfläche. Mit den vier Originalmitgliedern Lutz „Lüül“ Graf-Ulrich, Michael Hoenig, Burghard Rausch und Gustl Lütjens, der bis zu seinem Tod 2017 am Album mitarbeitete. Als Neuzugang anstelle des 2014 verstorbenen Bassisten Michael Günther ist Daniel Cordes dabei, der mit Lüül bereits bei den 17 HIPPIES spielte. Als Gäste finden sich die nicht ganz unbekannten Peter Michael Hamel (der ebenfalls eine AGITATION FREE-Vergangenheit hat) und Benjamin Schwenen.
Der von Pierre Lattés gesprochene Prolog von „Nouveau Son“ bringt Rock’n’Roll, rock progressif, L'avant-garde und AGITATION FREE (französischen Akzent dazu denken) in einen Verbund, bevor die Musik beginnt. Nach ein wenig herumschweifendem Vorgeplänkel startet der Opener mit sehr präsenten Drums und pumpenden Bass druckvoll durch. Die Gitarren flirren durch Zeit und Raum, Michael Hoenigs Keyboards sorgen für ein flächiges Gerüst. Space-Rock der konzentrierten Sorte, klanglich pointiert von Hoenig produziert.
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„Levant“ kehrt zurück auf die Erde, wandelt neugierig umher, verquirlt schwungvollen Rock mit Soundtrack-Elementen zwischen Italo-Western und Jess Franco-Filmen, hat keine Angst vor einem Flirt mit Jazz. Dern einzelnen Instrumenten wird Raum zum Agieren gegeben, ohne dass endlose Soli zelebriert werden. Besitzt einen lässigen Jam-Charakter, verliert sich aber nicht dank der hohen Dynamik im Nirgendwo.
„Nightwatch“ ist ein stimmungsvolles Flanieren durch nächtliche Straßen, mit abgründigem Unterton, würde sich als musikalische Interpretation zum gleichnamigen Film mit dem jungen Nikolaj „Jamie“ Coster-Waldau“ sehr gut eignen. „Lilac“ im Anschluss schwebt wie eine Steve-Hillage-Reminiszenz durchs All. Der euphorische Titeltrack, neben „Nightwatch“ mit gut neun Minuten das längste Stück des Albums, feiert eruptive Ekstasen zu wortlosem Gesang. „InDaJungle“ ist das gebührende, mit leichten KRAAN-Vibes versetzte, wuchtige Finale eines exquisiten Albums.
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FAZIT: „Momentum“ ist ein Comeback nach Maß. Man merkt dem Album die Freude an, mit dem die beteiligten, anderweitig keineswegs unterbeschäftigten, Musiker es eingespielt haben. Nicht mehr so experimentell wie in Frühzeiten, aber kraftvoll, von melodischer und rhythmischer Vielfalt, ein berückender Ritt durch die eigene Geschichte und die des krautigen Space-Rocks. So kann AGITATION FREE gerne in kürzeren Abständen als zuvor weiter agitieren!
Erschienen auf www.musikreviews.de am 21.12.2023
Daniel Cordes
Gustl Lütjens, Pierre Lattés
Lutz Graf-Ulrich, Gustl Lütjens, Benjamin Schwenen
Michael Hoenig, Daniel Cordes
Burghard Rausch
Lutz Graf-Ulrich (Banjo), Michael Hoenig (Electronic Percussion), Peter Michael Hamel (Santur)
MiG Music
56:58
24.11.2023