Zurück

Reviews

Charlie Watts: Anthology

Stil: Jazz

Cover: Charlie Watts: Anthology

Er war, ist und bleibt – auch nach seinem Tod am 24. August 2021 – der Gentleman hinter den ROLLING STONES-Rotzbengels, die, weil sie keine Befriedigung finden konnten und das lautstark in ihren Songs (natürlich ganz besonders in „I Can't Get No Satisfaction“) zum Ausdruck brachten, nur zu gerne die Sau rausließen und zum Schrecken aller Schwiegermütter wurden. Selbst in (West-)Deutschland wurde nach einem ihrer ersten Stadion-Auftritte im Jahr 1965 die Waldbühne verwüstet, was Ost-Deutschland dazu veranlasste, alles rund um die Band lauthals zu verbieten… Denn in puncto Verbieten und Mauerbauen war der Osten schon immer dem Westen überlegen.

<center><iframe width="560" height="315" src="https://www.youtube.com/embed/MSSxnv1_J2g" title="YouTube video player" frameborder="0" allow="accelerometer; autoplay; clipboard-write; encrypted-media; gyroscope; picture-in-picture; web-share" allowfullscreen></iframe></center>

Doch die Zeiten, die Musik und die Gesellschaftsformen ändern sich – und trotzdem oder gerade darum sind die Stones schon seit über 60 Jahren aktiv und im Gegensatz zu ihrem verstorbenen Gentleman-Schlagzeuger nicht unbedingt in Würde gealtert. Nach Charlies Tod haben die alten Opas auch diesmal den Zeitpunkt für den Absprung verpasst…
Watts war grundsätzlich der feste Anker dieser Band, der irgendwie immer als Ruhepol inmitten aller Band-Wildheit, Exzessen und Streitereien unter den Mitgliedern agierte und die Stones im Endeffekt wohl auch zusammenhielt, während sich die beiden Über-Egos Jagger und Richards die Köpfe einzuschlagen drohten. Die waren eben genau die Art von Rocker, die jedes Klischee erfüllten – während Watts der verschrobene Jazzer war.
Ein Schlagzeuger, der im Gegensatz zu seinen Mitstreitern nicht nur dem Rock, sondern ganz besonders auch den Jazz liebte und diesen stilvoll und sehr originell weit abseits von seiner Kult-Band verwirklichte. Nun also, knapp zwei Jahre nach seinem Tod, würdigt eine ganz besondere Doppel-LP unter dem nicht sonderlich einfallsreichen Titel „Anthology“ diese für viele ungewöhnliche Seite des ROLLING STONES-Schlagzeugers.

<center><iframe width="560" height="315" src="https://www.youtube.com/embed/TuYGXEKbJwg" title="YouTube video player" frameborder="0" allow="accelerometer; autoplay; clipboard-write; encrypted-media; gyroscope; picture-in-picture; web-share" allowfullscreen></iframe></center>

„Anthology“ ist eine Retrospektive dieser fast noch leidenschaftlicher als bei den rollenden Steinen gespielten Jazz-Stücke geworden, die im Jahr 1986 beginnt und sich über fast 20 Jahre erstreckt. Übrigens spielte – was bei dieser Veröffentlichung nicht berücksichtigt wurde – CHARLIE WATTS seinen letzten Jazz-Auftritt im Jahr 2017. Bis dahin dürfen wir aber die unterschiedlichsten Jazz-Formationen genießen, die er bereicherte, egal ob als Quartett, Quintett, Tentett oder mit großem Orchester bzw. Bigband. Aber es tauchen auch andere Musik-Giganten bei diesen Aufnahmen neben ihm auf, wie DAVE GREEN, der Kontrabassist und lebenslanger Watts-Freund, die begnadeten Saxophonisten PETER KING, EVEN PARKER und COURTNEY PINE oder der weitere Ausnahme-Schlagzeuger JIM KELTNER (u.a. bei BOB DYLAN, PINK FLOYD, NEIL YOUNG, J.J. CALE, ERIC CLAPTON, GEORGE HARRISON, JOHN LENNON und natürlich dem 2000er CHARLIE WATTS JIM KELTNER PROJECT) sowie der Sänger und Mitglied der ROLLING STONES-Liveband BERNARD FOWLER, der beispielsweise den wunderschönen Gershwin-Stücken seine Stimme verleiht.

Wer sich allerdings als echter Vinyl-Freak – und davon sollte es eine Menge aus dem Watts-Umfeld geben – für die Doppel-LP von „Anthology“ entscheidet, der muss leider auf einige Stücke, welche man nur auf der Doppel-CD findet, verzichten, darf aber den unvergleichlich guten Vinyl-Klang genießen.
Neben der Musik entdeckt man auf der Doppel-LP zudem noch, neben kunstvollen Fotos des 'alten' CHARLIE WATTS (Das Frontfoto stammt sogar von dem Kult-Fotografen Anton Corbijn!), auf den LP-Innenhüllen die umfangreichen Linernotes des Watts-Biografen Paul Sexton, der den Schlagzeuger über 25 Jahre lang begleitete und auch die von Watts autorisierte Biografie „Charlie's Good Tonight“ schrieb. Im Text wird akribisch aufgeführt, wie der ROLLING STONES-Drummer zum Jazz kam und dort auch dauerhaft blieb, wobei sogar so einige Parallelen zwischen den Querelen bei den Stones und die Auswirkungen auf Watts' Jazz-Kursionen hergestellt werden.

Danach hört man das eine oder andere Stück auf dieser Zusammenstellung, die mit der flotten BENNY GOODMAN-Swing-Nummer „Stomping At The Savoy“ beginnt, aber sich auch Saxophon-leidenschaftlich einem CHARLIE PARKER zuwendet oder bei den GERSHWIN-Stücken Barjazz-verträumt mit Gesang begeistert und mit DUKE ELLINGTONs „Take The 'A' Train“ endet, vielleicht mit ganz anderen Ohren – oder man legt einfach mal seine Stones-Platte(n) auf und vergleicht sie mit dem Watts-Jazz-Gegenstück. Es lohnt sich! Aber nur für diejenigen, die nicht bei dem Begriff Jazz das große Stirnrunzeln kriegen, denen wird diese völlig unsteinige Seite des RS-Schlagzeugers auch mit großer Anstrengung nicht behagen, selbst wenn die beiden Eigenkompositionen (gemeinsam mit J. Keltner) „Roy Haynes (Reprise)“ und „Airto“ mit einer ganzen Menge Rockappeal sowie elektronischer Verspieltheit aufwarten und an JAN HAMMER und HERBIE HANCOCK erinnern.

<center><iframe width="560" height="315" src="https://www.youtube.com/embed/M1_6z9oqet8" title="YouTube video player" frameborder="0" allow="accelerometer; autoplay; clipboard-write; encrypted-media; gyroscope; picture-in-picture; web-share" allowfullscreen></iframe></center>

FAZIT: Der große CHARLIE WATTS, der immer den Jazz liebte und in gewissere Weise auch immer den ROLLING STONES hinterm Schlagzeug 'diente' und die schwierigen Band-Charaktere irgendwie mit seiner stoischen Gentleman-Art zusammenhielt, hatte nach einem turbulenten RS-Jahr 1985, in dem er sich auch intensiv dem Alkohol und den Drogen zuwandte, ziemlich die Nase voll – weswegen er sich wohl wieder seiner echten musikalischen Leidenschaft hingab: dem Jazz der unterschiedlichsten Spielarten mit Bigband, Orchester, Quartett und vielen anderen Formationen. So fand er seinen Trost in der nur von ihm so heiß geliebten Musikrichtung und gründete das Charlie Watts Orchestra. Dieses Ensemble veröffentlichte im folgenden Jahr 1986 „Live From Fulham Town Hall“, wovon gleich die ersten beiden Stücke dieser „Anthology“ mit den Jazz-Aufnahmen von etwa 20 Jahren, die CHARLIE WATTS in ganz unterschiedlichen Formationen einspielte, stammen. Alles weitere ist ein Stück Jazz-Geschichte, geschrieben von einem ganz großen Jazzer, der aber als Rocker um Längen erfolgreicher und berühmter war. Höchste Zeit diesen vor knapp zwei Jahren verstorbenen ROLLING STONES-Schlagzeuger mit seiner ungewöhnlichen, sich weit abseits der Stones bewegenden, „Anthology“ ausschließlich von seiner abwechslungsreichen Jazz-Seite zu präsentieren.

Erschienen auf www.musikreviews.de am 30.06.2023

Tracklist

  1. <b>Seite A</b> (21:35):
  2. Stomping At The Savoy
  3. Flying Home
  4. Practising, Practising, Just Great
  5. Relaxing At Camarillo
  6. <b>Seite B</b> (21:40):
  7. Black Bird – White Chicks
  8. Cool Blues
  9. You Got To My Head
  10. If I Chould Lose You
  11. My Ship
  12. <b>Seite C</b> (23:56):
  13. Long Ago (And Far Away)
  14. Good Morning Heartache
  15. Never Let Me Go
  16. Roy Haynes (Reprise)
  17. Airto
  18. <b>Seite D</b> (20:30):
  19. Roll 'em Charlie
  20. What's New
  21. Take The 'A' Train

Besetzung

  • Bass

    Dave Green

  • Gesang

    Bernard Fowler

  • Schlagzeug

    Charlie Watts, Jim Keltner

  • Sonstiges

    Peter King, Even Parker, Courtney Pine (Saxophone), Gerard Presencer (Trompete)

Sonstiges

  • Label

    BMG

  • Spieldauer

    87:41

  • Erscheinungsdatum

    30.06.2023

© Musikreviews.de