Den internationalen Durchbruch erzielte das aus Providence, RI stammende Quartett DEER TICK 2013 mit dem fünften Album „Negativity“, nachdem sich die Jungs mit dem Produzenten (und Spezialisten für Bläser-Arrangements) Steve Berlin zusammentaten und unter dessen Regie ihr ursprünglich eher folkiges Genre-Refugium hinter sich ließen und dabei ihren Sound in Richtung eines vielschichtigen Rock'n'Roll-Panoptikums ausweiteten. Seither gab es allerdings kein Halten mehr und mit den beiden 2017 veröffentlichten Scheiben „Deer Tick, Vol. 1“ und „Deer Tick, Vol. 2“ sowie der 2019 erschienenen Anthologie „Mayonaise“ - auf der das Material von „Vol. 1“ und „Vol. 2“ noch einmal aus einer neuen Perspektive betrachtet und um weiteres Material ergänzt wurde - erreichten DEER TICK ihren bisherigen kreativen Höhepunkt.
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Der nachfolgende Break ist dann natürlich auch mit der Pandemie-Phase zu erklären, aber auch damit, dass die vier Band-Mitglieder Familien gründeten und sich erstmal auf ihr Privatleben konzentrierten. Freilich ließen sie sich dann von dieser neuen perspektivischen Ausrichtung songwriterisch inspirieren. Denn das, was DEER TICK als Band auszeichnet, ist der Umstand, dass sie mit Frontmann JOHN MCCAULEY, Gitarrist IAN O'NEILL und Drummer CHRIS RYAN gleich drei vollwertige Songwriter haben, die sich gegenseitig in verschiedenen Kombinationen perfekt ergänzen. Wer bei einer solchen Konstellation gleich an die BEATLES denken möchte, liegt da gar nicht so falsch, denn auch hier liegt das Erfolgsgeheimnis darin, dass sich die Herren gegenseitig zu Höchstleistungen anspornen und dabei songwriterisch zu recht unterschiedlichen Ergebnissen kommen.
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Anders als die letzten Arbeiten, bei denen DEER TICK alles vorher exakt planten und in in der Postproduktion genauso exakt nachbearbeiteten, entstand die neue Songsammlung in einer Atmosphäre des kreativen Miteinanders, denn bevor sie – dieses Mal mit Produzent Dave Fridman – ins Studio gingen, arbeiteten die Musiker vier Monate zusammen in einer überfluteten Lagerhalle, in der sich die 10 neuen Tracks gemeinsam aus einer riesigen Ideensammlung herauskristallisierten. Die Songs wurden live in Fridmans New Yorker Tarbox Road Studio eingespielt und mit den Beiträgen einiger Gäste angereichert. Neben Steve Berlin am Saxophon, Steve Poltz, Sheree Smith, Courtney Marie Andrews und McCauleys Frau Vanessa Carlton als Backgroundsinger waren zusätzlich Dave Fridman und sein Sohn Jon als Instrumentalisten an den Aufnahmen beteiligt und für ein Streicherensemble gab es ebenfalls Platz in den Arrangements, sodass am Ende ein recht opulenter Soundmix dabei herauskam.
Die Aufnahmen leben besonders von dem sägezahnartig ineinandergreifenden Gitarren-Parts in Rocksongs wie „If I Try To Leave“, dem von STONES-Riffs durchzogenen „Forgiving Ties“, dem pulsierenden, von Bläser-Sätzen befeuerten „Once In A Lifetime“ oder der Glam-Rock-Hymne „If She Could Only See Me Now“. An die folkige Vergangenheit erinnern hingegen Songs wie „Grey Matter“, der von DENNIS RYAN geschriebene soulige Torchsong „Running From Love“ oder O'Neills melancholische Ballade „A Light Can Go Out In The Heart“. Diese stehen für die romantische, lyrische Seite von DEER TICK.
Die zwischen 2017 und 2023 anzusiedelnde Phase des Innehaltens und der Rückbesinnung auf die ausschlaggebenden Werte – in dem Fall die Familie und das persönliche Umfeld – hat DEER TICK sichtlich gut getan und zeigt das Quartett als eine Band, die aktuell mit sich selbst im Reinen ist.
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FAZIT: Die „Emotionalen Verträge“, die DEER TICK auf diesem brillanten neuen Album besingen, sind Abmachungen, die man im Wesentlichen mit sich selbst abschließt, um innerhalb bestimmter moralischer Wertesysteme bestehen zu können. JOHN MCCAULEY geht sogar so weit zu sagen, dass es auf „Emotional Contracts“ um das Überleben an sich geht. Ganz bestimmt gilt das für den abschließenden 9-minütigen Track „The Real Thing“, in dem sich McCauley mit seinen andauernden Depressionen auseinandersetzt. Gerade deshalb haben viele der neuen Tracks neben einer poppigen auch eine betont kämpferische Note, was sich heutzutage nicht mehr ausschließlich in nervösem Power-Pop-Aktivismus, sondern in perfekt ausbalancierten, zeitlosen, organischen Rocksongs niederschlägt.
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 15.06.2023
Christopher Dale Ryan
John Joseph McCauley
Ian Patrick O'Neil, John Joseph McCauley
Dennis Michael Ryan
ATO Records
40:15
16.06.2023