Der erste Eindruck: Seit wann bin ich Experte für Kaffeehausmusik? Der zweite: Mit diesem Album will ich es werden!
Gautier Capuçons „Destination Paris“ ist ein schöner musikalischer Ausklang zu einem Jahr, das sich wie ein bösartiger Klon von 2022 gerierte. Ein euphorischer Rundumschlag durch frankophiles Kulturschaffen der bekannten Art.
Gautier Capuçon spielt mit viel Schmelz und Verve, überzeugt in kleiner Besetzung wie mit vollem Gebläse. Die Auswahl der Stücke ist an der Populärkultur ausgerichtet, aber in ihrer Vielfalt ergötzlich. Da gehen Ennio Morricone, Franz Lehar, Charles Aznavour, Claude Debussy, Maurice Ravel, Francis Lai, Vladimir Cosma („Reality“, really!) und weitere Komponisten eigenwillige Tete a tetes ein. Jean Jaques Goldman hat mit „Pense á nous“ eine hymnische Originalkomposition beigesteuert, volle Power mit Orchester und Kinderchor.
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Capuçon trift bei allen den richtigen Ton, weil er das allzu Schmalzige beiseitelässt durch sein klares, präzises Spiel, das dennoch hochemotional ist. So gelingt ihm eine bewegende Interpretation des melancholischen „Chi mai“ von Ennio Morricone, der Erkennungsmelodie zum gar nicht melancholischen, finsteren Jean Paul Belmondo-Vehikel ohne Happy End „Le Professionnel“ („Der Profi“).
Selbst abgenudelten Stücken wie Bizets „Habanera“, Jaques Offenbachs „Barcarolle“ oder Franz Lehars „L’Heure exquisite“ aus der „lustigen Witwe“ gewinnt der Cellist neue Nuancen ab, weil er sie nicht wie museale Artefakte, sondern wie untersuchungswürdige Kleinode behandelt, die in der Moderne nicht eingemottet werden müssen. Für zahlreiche der Stücke muss man auch ein gewisses Alter erreicht haben, um sie noch „populär“ nennen zu können. Insofern eignet sich das putzmuntere Album auch als Hort fürs kollektive Gedächtnis. Und Joe Dassin könnte man mal wieder Augen und Ohren leihen. (Wieder)entdeckungen sind also ebenfalls möglich. Feine Sache, dies.
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FAZIT: Gut gelaunt durch Paris streifen, ohne das Zimmer zu verlassen? Gautier Capuçon und seine exzellenten Begleiter machen es möglich. Adepten der vermeintlichen (und letztlich kleingeistigen) Hochkultur fluchen: „Das ist Kitsch as Kitsch can“ und bemängeln, dass der begnadete Künstler sich nicht mehr auf den ertragreichen Nebenstraßen des französischen Kulturschaffens bewegt. Kann man monieren, durchaus, aber man kann Gautier Capuçon auch mit Lust und Laune über die Champs-Elysées folgen. Soll keine Dauerbeschäftigung sein, sondern eine erholsame Auszeit. Flanieren statt lamentieren rulez.
Digital gibt es das Album auch in Dolby Atmos zu kaufen.
Punkte: 11/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 24.12.2023
Gautier Capucon (Cello), Maitrise de Radio France, Orchestre de Chambre de Paris, Lionel Bringuier
Warner Classics/Erato
76:08
03.11.2023