<img src="https://vg04.met.vgwort.de/na/e36aeb79822c4cff8c2aeb883309acba" width="1" height="1" alt="">Als das Gitarrensolo einsetzt, fließen die Tränen. Die junge Frau ist selber überrascht, schon die ganze Zeit, doch was nun aus ihr herausbricht, vor aller Welt, damit hat sie nicht gerechnet. Zu Beginn ihres Videos hat sie bereits den kleinen Sohn aus dem Raum geschickt, liebevoll, aber entschlossen, da sie nach den ersten Tönen von „Firth Of Fifth“ spürte, wie hier gleich etwas Außergewöhnliches passieren wird. Leider lässt sich ihr Clip nicht mehr finden, dafür jedoch Dutzende weitere aus der Gattung der „First-Time-Reaction“, die sich auf YouTube großer Beliebtheit erfreut. Menschen setzen sich darin tatsächlich erstmals Liedern aus, die andere seit Jahrzehnten begleiten. Man kann sich das kaum vorstellen, aber das gibt es. Leute, die noch nie zuvor Nirvana gehört haben oder gar die Beatles, die zum ersten Mal einem Epos von Pink Floyd begegnen oder eben, wie in diesem Fall, einem Klassiker aus der reinen Prog-Zeit von Genesis.
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Enny Fash ist eine weitere YouTuberin jener Art wie die junge Frau, die ich eingangs beschrieben habe, und auch sie kann die Tränen bei „Firth Of Fifth“ nicht zurückhalten. Dieser Song macht was mit den Menschen, weckt Emotionen, von denen sie selber nicht wussten, dass sie sie haben. Unter das verschwundene Video schrieb ich damals in den Kommentaren sinngemäß, dass derlei Musik aus Ebenen aufsteigt, die im Grunde schon transzendend sind. Wie Gitarrist Steve Hackett (der diese Epoche von Genesis bis heute weiter mit seinen Musikern pflegt) an dem Punkt der Handlung, an dem sich „Neptun eine weitere Seele geholt“ hat, die Gitarre in tiefster Trauer singen lässt, gehört zu den besten Soli aller Zeiten, was die emotionale Intensitität angeht. Bis heute vermag ich selber die Tränen nicht zu stoppen, wenn ich dieses Schlüsselwerk von Genesis höre. Was für „Firth Of Fifth“ gilt, gilt auch für einige weitere Momente auf dieser Platte, die am 12. Oktober 1973 erschienen ist, also exakt vor fünfzig Jahren, wenn ich diesen Text am 12. Oktober 2023 hier einstelle. „Dancing With The Moonlit Knight“ macht einen als Einstieg weniger traurig, sondern reißt eher hinein in diese grimmige und zugleich faszinierend geheimnisvolle Abrechnung mit dem Zustand der britischen Heimat. „The Cinema Show“ bindet hinten raus die Platte als dritter, monolithischer, unantastbarer Klassiker ab.
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„Ich habe viele der Subtilitäten und Klangwelten dieser Musik sehr genossen, die Dynamik dieses Stückes, also grub ich tiefer, da ich neugierig war, herauszufinden: Wie sind die auf sowas gekommen? Es überraschte mich wenig, als ich erfuhr, dass der Keyboarder der Band, Tony Banks, sich damals sehr stark mit klassischer Musik beschäftigt hat.“ So spricht Amy Shafer, eine völlig andere Reactorin, in ihrer Tiefenanalyse von „Firth Of Fifth“. Shafer hat in den vergangenen Jahren mit ihrem Kanal Virgin Rock großen Erfolg. Die Harfinistin und klassische Musikerin beschäftigt sich darauf mit jeder Form von Rock das allererste Mal und geht nach ersten, spontanen Reaktionen häufig dermaßen in die Tiefe, dass alle was davon haben. Vom Laien, der ansatzweise eine Ahnung davon bekommt, wie raffiniert das eigentlich alles ist, was ihn rein intuitiv fasziniert, bis hin zur Musikerin, die Note für Note Fachwissen vorfindet. Die Bedeutung von Tony Banks für Genesis, die Amy Shafer hier betont, kann gar nicht überschätzt werden. Seine kompositorischen Ideen, ungewöhnlichen Harmonien und völlig einzigartigen Stimmungen haben der Gruppe selbst bis tief in ihre spätere Pop-Phase hinein immer jene „quirkyness“ bewahrt, die sich als Begriff kaum angemessen übersetzen lässt. Bei „Firth Of Fifth“ sorgt er für einen Songbeginn, der auch aus den Händen eines klassischen Pianisten vorstellbar wäre, der in einem dunklen Konzertsaal voller selbsthypnotischer Rage Kopf und Körper nach hinten wirft.
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Fünfzig Jahre nach Erscheinen auch nur halbwegs angemessene Worte für diese Platte zu finden, ist schwer, wenn man kein „First-Time-Reactor“ ist, sondern ein „Lifetime-Listener“. Wobei sich die Frage interessant gestaltet, wie man heute als Musikjournalist auf ein Album wie dieses reagieren würde, wäre es brandneu und kein absoluter Klassiker des Progressive Rock und in dessen Kanon dermaßen sicher eingeschrieben wie ein „Zauberberg“ in jenen der Weltliteratur. Wahrscheinlich würde ich dann ein wenig monieren, wie „More Fool Me“ als schlichte und ein wenig halbherzige Akustikgitarren-Ballade nach dem epochalen „Firth Of Fifth“ auf dieser Platte aus dem Rahmen fällt. Der einzige Song, den nicht Peter Gabriel singt, sondern der Schlagzeuger Phil Collins, das erste Mal. Oder ich könnte laut darüber nachdenken, ob „The Battle Of Epping Forest“ es in seinen knapp zwölf Minuten übertreibt und genau dort, wo die anderen, langen Brecher auf dem Album ins Herz gehen, das Konzept „Progrock“ auf so nerdig-skurille Art verkörpert, dass man zumindest versteht, wogegen sich die Punks später gerichtet haben. Zu guter Letzt ließe sich fragen, ob der Ausklang namens „Aisle Of Plenty“ wirklich gelungen ist, weil er melodische Motive der Platte noch einmal wiederholt wie ein Filmabspann, der gesehene Szenen collagiert, oder eben gerade deswegen nicht. Interessanterweise landen alle drei genannten Stücke in Rankings der Songs von Genesis durch Fans und Nerds gerne mal auf ganz tiefen Plätzen, während das Album als Gesamtwerk immer Top 3 bleibt.
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Streng genommen, könnte man „Selling England By The Pound“ aus diesen Gründen sogar bloß 14 von 15 Punkten geben. Einerseits. Andererseits muss dieses musikalische Wunder angemessen gegen das Meiste abgegrenzt werden, was in den fünf Jahrzehnten nach ihm auf die Welt gekommen ist. Und es will bedacht sein, dass es sich bei den drei Prog-Meisterwerken darauf und bei dem ersten, gelungenen Versuch eines Hits mit „I Know What I Like (In Your Wardrope)“ im Grunde um 16er-handelt, um 20er, ach, um Punkteskalenbrecher.
FAZIT: Musikalisch, kompositorisch und instrumentell lässt sich verargumentieren, wieso Genesis hiermit eines der wichtigsten Alben der Musikgeschichte geschrieben haben. Entscheidend ist aber, wie tief es einen trifft, gehört man zu den Menschen, die damit in Resonanz treten können. Sollte wirklich jemand noch nie diese Erfahrung gemacht haben, wird’s Zeit für eine First Reaction.
Punkte: 15/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 12.10.2023
Mike Rutherford
Peter Gabriel, Phil Collins
Steve Hackett, Tony Banks
Tony Banks
Phil Collins
Flöte, Oboe: Peter Gabriel / Mellotron: Tony Banks / Elektro-Sitar: Mike Rutherford
Virgin
53:36
12.10.1977