Eine „Boomerang Town“ ist eine typische, amerikanische Kleinstadt in einer ländlichen Gegend, von der man sich als Einwohner nur schwer lösen kann und – wie ein Bumerang – wohl immer wieder dorthin zurück kehrt.
Obwohl auch die heutzutage in Nashville mit ihrer Partnerin MARY GAUTHIER lebende und arbeitende Songwriterin JAIMEE HARRIS in einer solchen (texanischen) Kleinstadt aufgewachsen ist, und obwohl sie eben diesen Bumerang-Effekt am eigenen Leibe erfuhr, ist ihr zweiter Longplayer aber kein rein autobiographisch ausgerichtetes Album geworden. Denn als Musikerin ist sie eine viel zu gewiefte Songwriterin, als dass sie sich damit zufrieden gäbe, lediglich ihre Tagebucheinträge zu vertonen.
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Das Coole sei ja gerade, dass man als Songwriter entscheiden könne, wer die Geschichte erzählt – stellt sie selber fest. Und damit versetzt Harris sich als Erzählerin in ihre Charaktere und schildert beispielsweise den Titelsong aus der Perspektive eines 17-jährigen, der in einem Walmart seiner „Boomerang Town“ arbeitet und diese schon alleine deswegen nicht verlassen kann, weil er gerade seine Freundin geschwängert hat.
Der Song „Fall (Devin's Song)“ beschreibt die Geschichte eines Jungen, den JAIMEE HARRIS während ihrer Schulzeit kannte, und der von seinem Bruder versehentlich erschossen wurde.
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Mit Perspektivwechseln dieser Art gelingt es der Songwriterin, die sich selber an der Gitarre begleitet, Persönliches mit Beobachtetem und Universellem zu verquicken, dabei im Detail spezifisch, aber von der Aussage her universell zu bleiben. Ähnlich ist es bei ihrer Partnerin MARY GAUTHIER, mit der sie ebenfalls zusammenarbeitet: Die Songs „How Could You Be Gone“ von „Boomerang Town“ und „Where Are You Now“ von JAIMEE's erstem Album „Red Rescue“ (2019) schrieben beide zusammen. Besagte Stücke befinden sich auch auf ihrem letzten Album „Dark Enough To See The Stars“.
Beide Songs sind dabei eine Hommage an verstorbene Freunde aus dem Musikbusiness – wie JIMMY LA FAVE – und stellen daraus resultierende Ideen statt Geschichten ins Zentrum. Selbst in dieser Hinsicht hat JAIMEE HARRIS eine klare Vorstellung davon, wie sie Ihr Material vielschichtig und authentisch gestalten kann.
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FAZIT: Nicht nur inhaltlich, sondern auch musikalisch zeigt sich JAIMEE HARRIS ganz in der Tradition klassischer Vorreiter – und macht auch keinerlei Hehl daraus, wes Geistes Kind sie ist: Ihr größtes Vorbild in musikalischer Hinsicht ist EMMYLOU HARRIS – jene Künstlerin, die sie überhaupt erst dazu inspiriert hat, selbst Singer/Songwriterin werden zu wollen. Songwriterisch ist es JAMES McMURTY, der sie lehrte, ihre Geschichten aus der spezifischen Perspektive einzelner Personen – die keineswegs sie selbst sein müssen – zu erzählen und so auch universelle Themen aufgreifen zu können. Dass ihre Musik eher traditionell ausgerichtet ist und sich ohne innovative Absichten im Bereich zwischen Folk und Country bewegt, empfindet die Musikerin dabei nicht als Handicap, sondern betrachtet sich vielmehr als Fackelträgerin der klassischen Songwriter-Traditionen. Kein Wunder also, dass „Boomerang Town“ ein rundum klassisches Singer/Songwriter-Album geworden ist.
Punkte: 12/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 15.02.2023
Jaimee Harris
Jaimee Harris
Folk 'n' Roll Records
46:58
17.02.2023