<b>„Dieses Album handelt von Wachstum und Dankbarkeit in meinem Leben. Ich wollte ein Projekt schaffen, das sich hoffnungsvoll anfühlt. Ich glaube, das schlimmste Gefühl, das ein Mensch haben kann, ist, sich hoffnungslos und wertlos zu fühlen. Dies ist therapeutische Musik. Echte Musik für echte Menschen mit echten Problemen.“</b> (Jelly Roll)
Hat man eigentlich, wenn man sich bereits auf halbem Wege zur Hölle befindet, noch die Chance wieder umzudrehen?
„Half Way To Hell“ (Soll das etwa eine Anspielung zu AC/DCs „Highway To Hell“ sein?), der Album-Opener von JELLY ROLLs „Whitsitt Chapel“ (Welch krasser Gegensatz zwischen Albumtitel und dem ersten Song!), gibt darauf zwar nicht wirklich eine Antwort...
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...aber die musikalische Auseinandersetzung damit begeistert durchaus – und Gegensätze gibt’s auf dem aktuellen Album des 'Country Rappers' aus Nashville, dessen Leben nicht gerade durch eine glückliche Kindheit oder behütetes Erwachsenwerden geprägt ist, ebenfalls jede Menge zu hören, wenn traumhafte Balladen, die einen an „Walking In Memphis“ von MARC COHN erinnern („Church“), auf harte Rock-Rap-Nummern der „Human“-Marke von RAG'N'BONE MAN („Unlive“) oder treibende Rock-Stampfer („The Lost“) treffen. Dazu noch eine gehörige Americana-Atmosphäre und ein paar verrockte Country-Zutaten sowie mehrere Gast-Sänger und schon ist die Kapelle bestens gefüllt.
Darum wohl begleitet uns auch ein etwas irre gewordener Prediger (Bei den Amis ist das wohl einfach normal!) durch fast das komplette Album und feuert seine krachigen Beschwörungen, Verteufelungen wie Seligpreisungen, gleich zu Beginn des Albums und dann immer mal wieder zwischen den Songs und am Ende dem wortwörtlich ungläubigen Hörer entgegen.
Also: Auf zum musikalischen Gebet, das in der „Whitsitt Chapel“ selbst denjenigen, die an keinerlei Gott glauben, viel Freude bereiten wird. Nur sollte man besonders als oller Gotteslästerer einfach über die eine oder andere, wen auch immer preisende und verächtende, Zeile hinweghören (obwohl auch jede Menge Süchte, wie Alkohol, Nikotin und härtere Drogen, eine wichtige Rolle in den Texten spielen): „Wash it all away, wash it all away from me / Because of Amazing Grace / I'm better than I used to be“.
Spätestens jetzt nimmt man JELLY ROLL, einem mit Klickzahlen im Netz überschütteten Outlaw-Musiker, der sich symbolisch in seinem Song „Nail Me“ wie Jesus ans Kreuz nageln lässt, ab, dass er dieses Album auch als 'therapeutisch für Menschen mit echten Problemen' ansieht, deren Hoffnung sich eben besonders auch in einem festen Glauben manifestieren können. Selbst wenn man mit all seinen Tattoos und seiner kriminellen Vergangenheit nicht unbedingt das Bild des erzbiederen Katholiken erfüllt.
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Eigentlich kann man als Musiker sich kaum besser im Americana-Universum (samt ein paar Rap-Einlagen) bewegen als es JELLY ROLL auf „Whitsitt Chapel“ tut, denn trotz des so unscheinbar erscheinenden LP-Covers mit besagter Kapelle, hinter der wohl ein Sturm aufzuziehen scheint, ist die Musik samt der Predigten dahinter ziemlich beeindruckend.
Geprägt durch den charismatischen Gesang zum einen, aber besonders auch die abwechslungsreiche Instrumentierung plus Melodien, die einen gefangennehmen und auch nach dem Ende des Albums fortklingen, zum anderen.
JELLY ROLL stammt aus Nashville, dem Zentrum der mainstreamorientierten Country-Musik – das hört man.
Aber er liebt auch Rock, Soul, Pop, Rap (Auch wenn beim einzig 'echten' Rap-Song „Unlive“ nicht er sondern YELAWOLF rappt!) sowie emotional tiefgehende, oft ein wenig pathetische Texte – das hört man ganz genauso. Denn der in Amerika heiß begehrte und massenhaft in den digitalen Klangmedien 'angeklickte und angebetete' Musiker lebt tatsächlich seine Vergangenheit und die Hoffnungen von Gegenwart und Zukunft in seiner südstaatengeprägten Musik aus. Er therapiert sich – und das müssen wir ihm bei den Texten und dem intensiven Gesang tatsächlich abnehmen: „God don't let me go / I only dance with the devil I know.“
Überhaupt beweisen sich gerade die Balladen – und von denen gibt es so einige auf „Whitsitt Chapel“ – als die große Stärke des Albums. Und wenn in „Save Me“ auch noch LAINEY WILSON als Duettpartnerin auftritt, schmilzt man beim Hören wie Butter in den göttlichen Sonnenstrahlen dahin.
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Hier liegt aber manchmal auch der echte Hase im ungöttlichen Pfeffer begraben. Denn dieses Kapellen-Album hat einen mitunter sich extrem an den Mainstream anbiedernden Hang, dem man kaum noch den Rotz und die Tränen anmerkt, die JELLY ROLL in früheren Zeiten in einer Familie mit süchtiger Mutter oder auch im Knast vergossen hat.
Nunmehr läuft wohl alles ziemlich glatt und irgendwie beweihräuchert sich JELLY ROLL in seinen Texten deswegen selber: „I only talk to God when I need a favor“.
Soll er sich gerne mit Gott unterhalten, nur auf seine Profession als echt starker Sänger sollte er sich einfach noch mehr verlassen. Und mutiger sein oder mehr auch mal wieder in Richtung Hölle statt nur zum Himmel zu blicken und auf saubere, harmonische Klänge dabei setzen. Denn spätestens wenn man bei „Dancing With The Devil“ zu den eingängigen Melodien mitschunkeln kann, dann ist die Absicht dahinter nicht erfüllt – da hilft dann auch ein rotzigeres E-Gitarren-Solo nicht mehr.
Na gut – die Gegensätze ziehen sich eben an.
JELLY ROLL ist ein Mann der Gegensätze: Er sehnt sich nach Gott, um dem Teufel seiner Vergangenheit entfliehen zu können. Musikalisch aber würde man sich hierbei mehr den steinigeren, als den deutlich von ihm zu glatt geebneten, Weg wünschen. Und dass zum Ende hin immer mehr die pathetische Country-Seligkeit in die „Whitsitt Chapel“ einzieht, während Prediger Jarrod Brown einem seine Gebetslitanei entgegenballert, ist nicht wirklich eine kluge Wahl.
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FAZIT: Lass rollen, JELLY ROLL, du vom Leben und dem Teufel oft schwer gezeichneter und sich darum ganz dem Gott in der „Whitsitt Chapel“ hingebender Musiker, der von Americana, Soul, Country, Folk, Pop bis hin zum Rap bei dieser charismatischen Stimme und den Songs, die manchmal Erinnerungen an die Musik von MARC COHN wecken, alles überzeugend singen kannst. Das Predigen und Selbstbeweihräuchern solltest du aber dann besser doch den Herren in ihren Gebetsmühlen überlassen. Die saßen schließlich auch nie im Knast oder sind tätowiert wie du. Also zeige auch ihnen mal klar die Stirn und rocke etwas mehr anstatt in Richtung Himmel dahinzuschwelgen.
Punkte: 11/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 05.07.2023
Devin Malone, Kevin Thrasher, Tim Marks
Jelly Roll
Sol Philcox-Littlefield, Nathan Keeterle, David Garcia, Andrew Baylis, David Ray Stevens, Kevin Thrasher, Ilya Toshinskiy, Austin Nivarel, Derek Wells, Justin Schipper, Scotty Sanders
Zach Krowell, Stu Stapleton, Kevin Thrasher, Alex Wright
Grady Saxman, Miles McPherson, Nir Z
Jarrod Brown (Prediger), Stuart Duncan (Fiddle)
Stoney Creek Records/BMG
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02.06.2023