Dieses 'frühe Wasser' kommt leider für MANUEL GÖTTSCHING zu spät!
Erschüttert mussten wir zur Kenntnis nehmen, dass der außergewöhnliche Musik-Virtuose, welcher maßgeblich zur Gründung der so genannten 'Berliner Schule' und des (elektronischen) Krautrocks beitrug, gar die Techno-Szene mit <a href="http://www.musikreviews.de/reviews/2016/Manuel-Goettsching/E2-E4-2016er-Vinyl-Edition/" target="_blank" rel="nofollow">„E2-E4“</a> aufrüttelte, und dies alles als ein in jedem Sinne positiv zu verstehender 'Oberlehrer' und Meister seines Fachs prägte, am 4. Dezember im Alter von gerade 70 Jahren verstarb, wodurch uns gleich zwei Wegbereiter der Elektronischen Musik – waschechte Elektronik-Pioniere und Weltreisende in dem Universum der kunstvoll größtenteils mit Tasteninstrumenten erzeugten Klangwelten für immer verloren gehen: MANUEL GÖTTSCHING, der Mann hinter ASH RA (TEMPEL), und KLAUS SCHULZE.
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Wie bitter diese Erkenntnis ist – an der man eben, so sehr man es auch wollte – nichts ändern kann, so gut ist es doch, dass uns MANUEL GÖTTSCHING mit seiner Musik etwas hinterlässt, das ihn unvergesslich macht. Sicher für alle Zeiten, denn seine Ideen und sein Mut, entgegen dem Mainstream immer wieder mit neuen Klängen und Experimenten aufzuschlagen, ließen ihn zum richtungsweisenden Wegbereiter innerhalb der elektronischen, krautrockigen und experimentellen Musik-Szene werden. Ein Weggestalter statt Mitläufer! Das bleibt!
Leider darf er nun nicht mehr die Neuauflage seines Albums „Early Water“ miterleben, die im Rahmen seines Labels MG.Art und mit Unterstützung von MIG music veröffentlicht wird. Ein Album, das er vor 47 Jahren mit MICHAEL HOENIG im Rahmen einer gemeinsamen Session aufnahm und das erstmals 1995 unter dem Label von BERND KISTENMACHER 'Musique Intemporelle' als „Early Water“ mit nur einem 48 Minuten langen Stück erschien und seit Ewigkeiten vergriffen – aber darum auch umso heißer begehrt – ist.
Zudem befinden sich im vierseitigen Booklet noch die originalen englischsprachigen Linernotes, die MANUEL GÖTTSCHING 1995 zu dem Album schrieb und in denen man erfährt, wie es zur ersten Begegnung mit MICHAEL HOENIG, der damals noch bei <a href="http://www.musikreviews.de/reviews/2013/Agitation-Free/Fragments-LP-Live-1974/" target="_blank" rel="nofollow">AGITATION FREE</a> spielte, kam. Auch dass die ungeplanten Aufnahmen von „Early Water“, die nur einer Konzerttournee-Absage durch Frankreich wegen entstanden, welche beide Musiker zur Promotion von Göttschings ASHRA-Album „New Age Of Earth“ antreten wollten, spielen genauso eine wichtige Rolle wie die Tatsache, dass genau diese Aufnahme erst 20 Jahre später erstmals veröffentlicht wurde.
Genau 48 Minuten und 26 Sekunden lang begeben wir uns auf eine musikalische Reise in die Synthie-Key-Gitarren-Tiefen von Early Water“. Sofort wird der Hörer – so er auch das großartige „New Age Of Earth“-Album von ASHRA besitzt – verstehen, warum dieser maximale, über dreiviertelstündige Longtrack im Umfeld des 'neuen Erdzeitalters' der ASHRA-Galaxie entstand und im Grunde auf ganz ähnliche musikalische Weise nun von der Erde ins Wasser geht.
Sphärisch, schwebend, verträumt und langsam in die Tiefen von „Early Water“ sinkend, bis sich immer mehr die Gitarre in den Vordergrund spielt, so als wollte sie uns wieder an die bereits von der Sonne beschienene Wasseroberfläche holen, entwickelt sich das in sich geschlossene, langsam, aber immer stärker anschwellende Instrumental-Stück, das ganz locker Hand in Hand mit TANGERINE DREAM und KLAUS SCHULZE alle Weihen des elektronischen Kosmos' enthält, der in den 70er-Jahren ungeahnte, fast hypnotische Dimensionen entfaltete.
„New Age Of Earth“ versinkt auf diese Weise tief im „Early Water“ und erschafft so eine wortwörtlich tiefenentspannte, träumerische, optimistisch wie melancholische Atmosphäre aus Ambient und Electronics sowie verträumter Gitarre im Geiste elektronischen Krauts, das seine Wirkung nicht verfehlt – vielleicht sogar süchtig macht.
Göttsching selber sprach damals im Falle von „Early Water“ von einem bei der letzten Probe vor der eigentlich geplanten Konzerttournee „für alle Fälle“ aufgenommen Titel, der „ein fließendes, harmonisches Stück“ geworden ist, „das viel von der optimistischen Stimmung des Jahres 1976 widerspiegelt“ und nach einem Treffen von Hoenig & Göttsching im Jahr 1994 von MICHAEL HOENIG mit nach New York genommen wurde, wo dieser die Aufnahme liebevoll restaurierte.
Hoenig ergänzt dazu: „Während ich an dem Album 'Departure From The Northern Wasteland' arbeitete, hatte mich Manuel Göttsching gefragt, ob ich mit ihm für einige Konzerte in Frankreich zusammenarbeiten würde, da seine Gruppe gerade eine Winterpause eingelegt hatte. […] Nach der Tournee-Absage spielten wir 'nur zum Spaß' ein letztes Mal eins der geplanten Sets. Obwohl ich mich nicht daran erinnern kann, die Aufnahmetaste gedrückt zu haben, hat jemand kürzlich ein Revox-Band mit diesem Set ausgegraben. Nach einer digitalen Klangarchäologie wurde es soeben unter dem sehr passenden Titel 'Early Water' veröffentlicht.“
Und aus den Tiefen winken uns die musikalischen Erinnerungen entgegen, auch um Abschied zu nehmen und langsam zu verhallen, so wie die letzten Töne auf „Early Water“.
Nun also ist er ganz weit weg – und wir können ihm vorerst nicht folgen. Aber vergessen werden wir MANUEL GÖTTSCHING bestimmt nicht, auch wenn wir uns einfach mal wieder die sehnsuchtsvollen Zeilen von „Sehnsucht“ in Erinnerung rufen, als Göttsching vor einem halben Jahrhundert auf <a href="http://www.musikreviews.de/reviews/2012/Ash-Ra-Tempel/Join-Inn-1972--Remastert-2011/" target="_blank" rel="nofollow">„Join Inn“</a> fabulierte:
„Manchmal - ist es so unglaublich schön
Nimm mich mit!
Ganz weit weg
Hörst du!“
Wir hören ihn – er nimmt uns mit!
Auch wenn uns nunmehr nur noch seine Musik und unser Erinnerungen an MANUEL GÖTTSCHING bleiben.
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FAZIT: Das erste musikalische Lebenszeichen des ASHRA (TEMPEL)-Masterminds MANUEL GÖTTSCHING, nachdem er kurz vor Weihnachten des vergangenen Jahres überraschend verstarb. „Early Water“ wurde 1976 gemeinsam in Vorbereitung einer später abgesagten Frankreich-Tournee gemeinsam mit MICHAEL HOENIG eingespielt und lebt gänzlich vom Geist des zur gleiche Zeit entstandenen ASHRA-Albums „New Age Of Earth“. Das wunderbar atmosphärisch fließende Album im besten Sinne der 'Berliner Schule' und der unendlichen Elektronik-Kraut-Galaxie ist zugleich der Beweis dafür, wie unvergänglich die Musik rund um MANUEL GÖTTSCHING, einem der größten Elektronik-Pioniere, war, ist und bleiben wird.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 11.03.2023
Manuel Göttsching
Manuel Göttsching, Michael Hoenig
MG.Art/MIG
48:26
17.02.2023